Anlässlich des Jubliäums "60 Jahre Mauerbau" am 13. August 2021 - hier ein Artikel von mir:
VON MICHAEL MARA - 09.08.2011- Potsdamer Neueste Nachrichten
Mein
erstes Bild von der Grenze war der Stacheldrahtverhau, der Steinstücken
seit dem 13. August einschloss. Es war eine stille Nacht, feucht vom
Regen.
An glänzenden Drähten hingen dicke Tropfen. Die Drähte wirkten im Mondlicht unecht wie ein kristallisiertes Ornament.
Der
glatt geharkte Streifen davor, der Spuren von "Grenzverletzern"
kenntlich machen sollte, erinnerte an die Aschenbahn eines Stadions. An glänzenden Drähten hingen dicke Tropfen. Die Drähte wirkten im Mondlicht unecht wie ein kristallisiertes Ornament.
Die
Wirklichkeit hatte ich gleich bei meiner Ankunft in der
12.Grenzkompanie an der Potsdamer Steinstraße kennen gelernt. Mehrere
bei einem Fluchtversuch gestellte junge Leute mussten sich an einer
Barackenwand aufstellen und die Hände in den Nacken nehmen.
Vier
Posten, die russische Kalaschnikow im Anschlag, bewachten sie vor ihrem
Abtransport. Ihre Gesichter sahen verängstigt aus. Keiner durfte mit
ihnen reden.
Das
Bild wollte mir bei meinem ersten Postendienst nicht aus dem Kopf und
ich fragte mich, wie ich reagieren würde, wenn wir auf Flüchtlinge
stießen.
Der Befehl des Kompaniechefs lautete „Grenzverletzungen durch Agenten, Spione, Terroristen unter allen Umständen verhindern: Anruf, Warnschuss, Zielschuss!“
Der Befehl des Kompaniechefs lautete „Grenzverletzungen durch Agenten, Spione, Terroristen unter allen Umständen verhindern: Anruf, Warnschuss, Zielschuss!“
Der
Postenführer, ein schweigsamer und schwer zu durchschauender
Endzwanziger, unterbrach meine Gedanken: "Dort", sagte er und deutete
auf ein Gasthaus in Steinstücken, "haben wir uns bisher Westzigaretten
besorgt. Das ist jetzt aus.“
Bis zum 13.August waren
die Grenzer von dem Steinstückener Gastwirt gut versorgt worden. Er gab
öfter mal Bier und Essen aus, steckte den jungen Soldaten Schokolade
oder Bananen zu.
Das
geschah heimlich, aber es war doch eine gewisse nachbarschaftliche
Normalität, obwohl Steinstücken seit 1949 eine „kapitalistische Enklave“
war: ein kleines Stück West-Berlin auf DDR-Gebiet, unmittelbar an
Potsdam angrenzend und mit dem Ortsteil Kohlhasenbrück in Wannsee durch
eine Straße verbunden.
Jetzt war die bisherige Verbindungsstraße aufgerissen und mit Stacheldraht gesperrt.
Die
Steinstückener mussten einen anderthalb Kilometer langen und gut
bewachten Waldweg benutzen, wenn sie zur Arbeit nach West-Berlin
wollten.
Sie wurden zweimal kontrolliert: Beim Verlassen ihrer kleinen Insel und dann noch einmal an der Grenze zu West-Berlin.
Sie wurden zweimal kontrolliert: Beim Verlassen ihrer kleinen Insel und dann noch einmal an der Grenze zu West-Berlin.
Der
dort eingerichtete „Kontrollpunkt Kohlhasenbrück“ bestand aus einem
Schlagbaum und einem kleinen gemauerten Wachhäuschen. Besucher, selbst
Verwandte, wurden nach dem 13.August nicht mehr nach Steinstücken
durchgelassen, nur die Feuerwehr durfte im Notfall noch passieren.
Die
Stimmung bei den über Nacht völlig isolierten rund 200 Bewohnern
Steinstückens war seit dem 13. August mies. Weniger zu ihrem Schutz,
sondern als demonstrative Geste hatte die US-Army vier Soldaten in der
West-Berliner Exklave stationiert, die mit dem Hubschrauber eingeflogen
wurden und der Kompanieführung ein Dorn im Auge waren. Jede Kontaktaufnahme mit den „imperialistischen Söldnern“ war uns strengstens untersagt.
Es
handele sich um „gefährliche, im Nahkampf ausgebildete US-Ranger“ die
vor nichts zurück schrecken würden. Wir müssten mit Provokationen
rechnen, ja sogar Entführungsversuchen, hatte der der Kompaniechef uns
Neuankömmlinge gewarnt.
„Die
tauchen jeden Abend hier auf“, sagte mein Postenführer. Und tatsächlich
ließen sie nicht lange auf sich warten. Die drei US-Soldaten
unterhielten sich laut, grüßten lässig und ich nickte zurück - ein
Reflex. Der
Postenführer sah das, stieß mir seine MPi in die Hüfte und zischte:
"Wenn das noch mal vorkommt, mache ich Meldung." Bis dahin hatte ich
mich ganz gut mit ihm verstanden, nun wollte ich vorsichtiger sein.
Die
US-Soldaten gingen am Stacheldraht-Zaun vorbei, der links und rechts
bis an den Weg heranreichte, und kamen geradewegs auf uns zu. Wir waren
angewiesen worden, sie in einem solchen Fall am Betreten des
Grenzgebietes der DDR zu hindern. Der Postenführer rief irritiert
„Stopp“, riss nervös seine Maschinenpistole von der Schulter und
entsicherte sie.
Auf
sein Geheiß tat ich das gleiche. Die Amis, jetzt nur noch drei oder
vier Meter von uns entfernt, grinsten. Einer streckte uns die Hand mit
einer Packung Zigaretten entgegen.
Der Postenführer richtete seine Waffe auf den dunkelhäutigen Soldaten.
Nach vielleicht 30 Sekunden, die mir wie Minuten erschienen, machten sie kehrt und gingen langsam und laut lachend nach Steinstücken, auf West-Berliner Gebiet, zurück.
Nach vielleicht 30 Sekunden, die mir wie Minuten erschienen, machten sie kehrt und gingen langsam und laut lachend nach Steinstücken, auf West-Berliner Gebiet, zurück.
Eigentlich wäre es ganz einfach ihnen jetzt zu folgen, schoss es mir durch den Kopf.
Die Amis würden Flüchtlinge mit ihrem Hubschrauber nach West-Berlin ausfliegen, hatte mir ein Soldat erzählt.
Aber
das Risiko schien mir zu groß. Selbst wenn der Postenführer nicht auf
mich schießen würde oder es mir gelänge, ihn vorher außer Gefecht zu
setzen, könnte der Kompaniechef mit 20 oder 30 schwer bewaffneten
Soldaten nach Steinstücken einmarschieren und mich mit Gewalt
herausholen. Das hatte er „Verrätern“ jedenfalls angedroht - und ich
hielt in diesen unruhigen Tagen alles für möglich.
Die Kompanieführung war nervös, wenige Tage zuvor waren wieder zwei Grenzsoldaten geflüchtet.
Die Kompanieführung war nervös, wenige Tage zuvor waren wieder zwei Grenzsoldaten geflüchtet.
Wegen der gehäuften Desertationen hatte der Brigade-Stab eine gründliche Untersuchung angeordnet.
Es hieß, dass ein großer Teil der Soldaten und Offiziere ausgewechselt werden solle.
Ich war überrascht, wie labil die Situation in der Kompanie Drewitz-West war.
Dass ich die erste Gelegenheit zur Flucht nutzen würde, stand für mich seit meiner Rekrutierung fest.
Um
die Grenzsperren zu bewachen, wurden unmittelbar nach dem 13. August
Hals über Kopf tausende junge Männer im Schnellverfahren eingezogen.
Fast ausnahmslos FDJ-Mitglieder, von denen man sich politische
Zuverlässigkeit versprach. Ich war an jenem Schicksals-Sonntag erst ein
paar Monate Jungredakteur beim Ost-Berliner Verlag „Junge Welt“, der im
Auftrag der FDJ zahlreiche Kinder- und Jugendzeitschriften heraus gab.
Man
hatte mich zum so genannten 4. Pioniertreffen, einem Aufmarsch der
Kinderorganisation, nach Erfurt entsandt. Als ich morgens im Pressebüro
erschien, begrüßten mich einige Jugendfunktionäre, als ob eine
revolutionäre Schlacht gewonnen worden wäre:
„Endlich.Wir
hätten die Grenze schon längst dicht machen sollen“ und „Wir zeigen es
denen, jetzt ist es vorbei mit der Ausplünderung der DDR“.
Ich
bekam den Auftrag, zustimmende Erklärungen von Erfurtern zu besorgen,
die am nächsten Tag veröffentlicht werden sollten. Am Hauptbahnhof stieß
ich auf eine größere Menschenansammlung.Viele machten ihrem Ärger
Luft, weil keine Fahrkarten nach Ost-Berlin verkauft wurden. Polizisten
versuchten, die Menschen zum Verlassen des Gebäudes zu bewegen. Eine
Frau weinte: Sie wollte ihre Tochter in West-Berlin besuchen.
Andere
fürchteten, dass es jetzt zum Krieg kommen werde: „Das wird der Westen
nicht hinnehmen.“ Die Menschen waren aufgewühlt, ich traf nur zwei
Parteigenossen, die die Abriegelung der Grenze begrüßten.
Weil
der Leiter des Pressebüros mit meiner dürftigen Ausbeute nicht
zufrieden war, formulierte er eiligst selbst die Abriegelung gutheißende
Erklärungen und setzte erfundene Namen und Berufe darunter. Sie wurden
veröffentlicht. Abends sagte mir ein Funktionär des Verlages „Junge
Welt“: „Wir sind informiert worden, dass 20 000 Soldaten zur Sicherung
des antifaschistischen Schutzwalls benötigt werden. Ich habe Dich auf
die Liste gesetzt.
Halte
Dich auf Abruf bereit.“ Als ich die Bereitschaftserklärung
unterzeichnete, wusste ich, dass die Unterschrift bestimmend für mein
weiteres Leben und vielleicht auch für das Schicksal anderer sein würde.
Schon
ein paar Tage nach meinem ersten Dienst stand ich morgens wieder an der
Straße vor Steinstücken. Der Postenführer wies mich an, von den zur
Arbeit nach West-Berlin fahrenden Steinstückenern Namen und Wohnung
festzustellen. „Keine Diskussionen, keine Gespräche!“ Das erste Auto war
ein kleiner blauer Wagen. Der Fahrer hielt kurz seinen Ausweis an die
Scheibe und wollte weiterfahren. "Drehen Sie bitte die Scheibe herunter
und geben Sie mir Ihren Ausweis zur Kontrolle", sagte ich.Nur ein
kleines Stück senkte sich das Glas, aber der Ausweis erschien nicht.
„Das wird ja hier immer schlimmer. Ich werde mich bei unseren Alliierten beschweren.
Ich
brauche meinen Ausweis nicht aus der Hand zu geben.“ Plötzlich legte
der Fahrer den Gang ein. Der Postenführer sprang vors Auto und richtete
seine entsicherte Maschinenpistole auf das Fahrzeug. "Machen Sie keine
Faxen, Mann!" Nun drückte mir der Fahrer seinen Ausweis in die Hand.
„Prof. Dr. Johannes Niemeyer“ las ich. Unsere Blicke trafen sich, ich
sah ein feines Gesicht. Schnell überflog ich den Ausweis und gab ihn
zurück. Was mag der Mann denken? Ich beschloss, mich später bei ihm zu
entschuldigen. Aber wann würde das sein?
Viel Zeit hatte ich nicht mehr, der Ausbau der Grenzanlagen schritt schnell voran.
Ich
hatte zunächst angenommen, dass man es bei einem zwei Meter hohen
Stacheldrahtzaun belassen würde. Inzwischen wurden aber ein zweiter und
dritter Stacheldrahtzaun mit Betonpfählen errichtet. Zwischen dem ersten
und dem zweiten Zaun lagen überkreuzte Holzbalken, die mit Stacheldraht
bespannt waren, sogenannte „Spanische Reiter“, so dass selbst ein
gewaltsam durchbrechender Lastwagen darin hängen bleiben musste.
Ich hatte Sorge, dass ich den besten Zeitpunkt für eine sichere Flucht verpassen würde. Niemand sollte zu Schaden kommen.
Heiligabend
1961, mehr als vier Monate nach der Abriegelung der Grenze, war die
Stimmung in der Kompanie auf dem absoluten Tiefpunkt. Urlaubssperre,
schlechte Verpflegung, eisige Kälte und Mangel an warmen Mänteln und
Jacken. Viele Soldaten hatten Heimweh.
Die
Lethargie war groß und so sprach ich morgens mit einem Kameraden beim
Kompanieführer vor: Er stimmte unserem Vorschlag sofort zu, zur
Verbesserung der Stimmung spontan eine Weihnachtsfeier zu organisieren.
Wir fällten im Wald eine Kiefer, kauften im Konsum in Babelsberg den
restlichen noch vorhandenen Weihnachtsschmuck auf. Abends packten wir
die Päckchen aus, die wir von zu Hause erhalten hatten, und legten das
von unseren Familien gebackene Gebäck und andere Leckereien auf den
Tisch.
Jeder konnte sich bedienen. Dazu lief Weihnachtsmusik.
Die
eigentliche „Bescherung“ fand für mich gegen 21 Uhr statt: Weil
Weihnachten war, zog die Kompanieführung die „Vergatterung“ für den
Dienst am nächsten Morgen um Stunden vor, nicht ahnend, was sie mir
damit für ein Geschenk bereitete: Ich sollte zum ersten Mal am
Kontrollpunkt Kohlhasenbrück stehen, direkt an der Grenze zu
West-Berlin. Am Schlagbaum an dem alle Bewohner Steinstückens bei der
Ein- und Ausfahrt kontrolliert und Unberechtigte abgewiesen wurden. Eine
bessere Gelegenheit zur Flucht würde es nicht geben.
Ich
war aufgeregt und packte Ausweise und andere wichtige Dokumente, die
ich mitnehmen wollte, in meine Uniformjacke, was eigentlich verboten
war. An Schlaf konnte ich in dieser Weihnachtsnacht nicht zu denken.
Mir
war warm als ich am Weihnachtsmorgen um fünf Uhr vom Lastwagen sprang
und mit dem Postenführer zum winzigen Kontrollhäuschen schritt. Es hatte
ein wenig geschneit und war eisig kalt. Aus dem Wald drang kein Laut,
er wirkte märchenhaft, wenn da nicht der von grellen Laternen
beleuchtete Schlagbaum und die Stacheldrahtzäune links und rechts des
Weges gewesen wären. Der Postenführer teilte mich für die erste Stunde
zur Kontrolle am Schlagbaum ein, er übernahm die darauffolgende. Um
sieben Uhr ging ich wieder nach draußen, der Postenführer zog sich ins
warme Häuschen zurück..
Wenig
später kamen, von mir erwartet, die links vom Kontrollpunkt Streife
laufenden Soldaten zum Schlagbaum. Mit dem Postenführer, einem
Kameraden, hatte ich mich Heiligabend abgesprochen: Wir wollten
gemeinsam flüchten. Wie besprochen schickte er seinen Posten zum
Aufwärmen in das Kontrollhäuschen, was eigentlich streng verboten war.
Wir
standen allein am Schlagbaum, unterhielten uns laut: Um nicht den
Argwohn der beiden Soldaten zu erregen zeigten wir uns wiederholt am
Fenster.
Wir
hätten die Straße nach West-Berlin einfach hinunter laufen können.
Aber das Risiko wäre groß gewesen, in das Schussfeld der beiden Soldaten
oder einer hin und her pendelnden Kontrollstreife zu geraten. Der
Schlagbaum befand ich etwa 80 Meter von der Grenzlinie entfernt. Die
Straße war grell beleuchtet und von allen Seiten gut einsehbar.
Deshalb hatten wir uns schon Heiligabend entschlossen, abseits vom Kontrollpunkt im Dunklen über den Stachelverhau zu klettern.
So
schlenderte erst mein Kamerad von der Straße weg am Stacheldrahtzaun
entlang, als ob er etwas kontrollieren wollte. Ich zeigte mich ein
letztes mal vor dem Fenster des Kontrollhäuschens: die beiden Soldaten
unterhielten sich Langsam folgte ich meinem Kameraden. Alles blieb
ruhig. Als wir meinten uns weit genug vom Häuschen entfernt zu haben
kletterten wir über die Zäune. Warum ich meinen sowjetischen Karabiner
„S“ mit 60 Schuss Munition mitschleppte, ist mir bis heute ein Rätsel
geblieben.
Selbst wenn Soldaten auf uns geschossen hätten, hätte ich nicht zurück geschossen.
Wir
hatten West-Berlin noch nicht erreicht, als ich auch aus dem
Augenwinkeln wahrnahm, wie sich eine Unteroffiziers-Streife dem
Kontrollpunkt näherte. Zu spät!
Wir
rannten unter einer Brücke hindurch, rissen die Tür zu einem kleinen
Wachhäuschen der Berliner Polizei auf und stürmten hinein. Die beiden
Polizisten, die Weihnachtsmusik hörten und Kaffee tranken, erschraken
heftig und sprangen auf. Später gestand einer lachend, er habe
angesichts meines Karabiners für eine Sekunde geglaubt „die Russen
kommen“. Obwohl ich mich freute, wie glatt alles gegangen war, zitterten
mir die Knie. "Das ist immer so, wenn man es geschafft hat", beruhigte
ein Polizist.