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Operativer Vorgang "Redakteur"



Journalisten aus dem Westen waren natürliche Feinde des DDR-Systems. Ein Tagesspiegel-Mitarbeiter bekam dennoch von der Stasi interne Dokumente – man wollte ihn kontrollieren und andere Quellen enttarnen. Doch der Plan ging nicht auf. Eine Agentengroteske.



VON MICHAEL MARA  - 22.10.2014 - Der Tagesspiegel



Zum Autor: Michael Mara, Jahrgang 1941, wuchs in Halberstadt auf. Er absolvierte eine Journalisten-Ausbildung an der FDJ-Jugendhochschule am Bogensee und arbeitete dann beim Verlag „Junge Welt“ als Redakteur. Wenige Wochen nach dem Bau der Berliner Mauer wurde er als Grenzsoldat eingezogen und flüchtete bei einer günstigen Gelegenheit im Dezember 1961 von Potsdam aus in Uniform nach West-Berlin. Mit Rainer Hildebrandt baute er dort die Mauer-Ausstellungen zunächst in der Bernauer Straße, dann am Checkpoint Charlie auf. 1964 ging er als Redakteur zum Informationsbüro West (IWE), 1969 wurde er Redaktionsleiter. Seit Mitte der siebziger Jahre berichtete er für den Tagesspiegel und eine Reihe westdeutscher Zeitungen über die DDR, aus der heraus er intensiv – zeitweise waren sechs Stasi-IM gleichzeitig auf ihn angesetzt – beobachtet wurde. Nach dem Mauerfall leitete er 17 Jahre lang das Tagesspiegel-Redaktionsbüro in Potsdam. Seit 2007 arbeitet Mara als freier Journalist. 2011 erschien von ihm im Tagesspiegel „Wie die Stasi mich entführen wollte“ – die Geschichte eines Kidnapping-Versuchs 1968.



Am 20. Mai 1987 fährt mein Freund und Kollege Achim L. mit seinem braunen VW-Käfer-Cabrio wieder einmal in besonderer Mission nach Ost-Berlin. Der schlanke Mittdreißiger mit leicht schütterem Haar und Geheimratsecken ist eine eher unauffällige Erscheinung: Wie meist trägt er eine abgewetzte braune Lederjacke und Jeans. Unter seinem Sitz hat er, wie immer bei seinen Kurierfahrten, ein paar Geschenke und einen Brief von mir für den Mann verstaut, mit dem er sich gegen 19 Uhr in der Allee der Kosmonauten in Marzahn zur Übergabe interner Materialien treffen will. Es ist Klaus K., Oberstleutnant der NVA und Ressortleiter im Militärverlag der DDR. Den Grenzübergang Invalidenstraße passiert L. schneller als sonst, worüber er sich aber keine Gedanken macht. Zügig fährt er in Richtung Marzahn weiter. Dass er von einem Pkw verfolgt wird, bemerkt er nicht. In Marzahn angekommen, parkt L. seinen Wagen in der Nähe des vereinbarten Treffpunktes, weil er mit seinem West-Berliner Kennzeichen nicht auffallen will. Klaus K. kommt ihm schon entgegen, beide begrüßen sich freundlich. Sie gehen ein paar Schritte gemeinsam, bis ihnen zwei Männer den Weg versperren. Einer fordert Achim L. auf, „zur Klärung eines Sachverhalts“ in einen am Straßenrand stehenden blauen Lada einzusteigen. Klaus K. geht unterdessen weiter, als ob nichts geschehen ist. Also doch ein Stasi-Mann, schießt es Achim L. durch den Kopf, während er sich in den Pkw zwängt.



Der Stasi-Thriller hatte acht Jahre zuvor in Halberstadt begonnen: Am Vormittag des 28. April 1979 klingelt es an der Wohnungstür meiner Großeltern in der Otto-Grotewohl-Straße 37. Sie waren damals beide um die 80, den jungen Mann vor ihrer Tür kennen sie nicht. Er stellt sich freundlich als Jugendfreund ihres Enkels vor, mit dem er nach seinem Journalistikstudium wieder Kontakt aufnehmen wolle. Denn Michael, damals junger Redakteur im Ost-Berliner Verlag „Junge Welt“, habe ihn einst für diesen Beruf gewonnen. Dafür sei er dankbar. Die Oma hört schwer, versteht nicht alles, aber der Opa ist hellwach misstrauisch. Als Klaus K. nach meiner Adresse in West-Berlin fragt, rückt er sie nicht heraus: Der ziehe gerade um, sie sei ihm nicht bekannt. Daraufhin bittet der Besucher, doch die Adresse seiner Mutter in Gera an Michael weiterzuleiten.



Nachdem mein Großvater mich über den Besuch informiert hatte, stellte ich mir sofort die Frage, ob er vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geschickt worden sein könnte. Ich arbeitete damals als leitender Redakteur beim Informationsbüro West (IWE), das im Auftrag des innerdeutschen Ministeriums der Bundesrepublik die DDR-Presse auswertete und relevante Nachrichten weiterverbreitete. Durch diese Tätigkeit wusste ich, dass Klaus K., Hauptmann der NVA, für das Wochenblatt „Volksarmee“ als Reporter tätig war. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass er das Risiko eingehen könnte, mit mir Kontakt aufzunehmen, einem zur Dauerfahndung ausgeschriebenen geflüchteten Grenzsoldaten. Aber sicher war ich mir nicht. Ich schloss nicht aus, dass Klaus K. persönliche Ziele verfolgte, zumal wir nach meiner Flucht 1961 einige Jahre Briefkontakt hatten und ich auch Geschenkpäckchen an seine Familie schicken ließ.



Dem MfS traute ich zwar einiges zu, doch was ich mir damals nicht vorstellen konnte und erst nach dem Mauerfall erfuhr: mit welcher Verbissenheit die Stasi seit 1977 meine Überwachung betrieb, meinen Postverkehr kontrollierte, meinen Freundes- und Bekanntenkreis im Osten und Westen durchleuchtete, mein Wohnumfeld observierte, IMs suchte und auf mich ansetzte.



Die Begründung ist im sogenannten „Operativ-Vorgang Redakteur“ (Reg.-Nr. XV/2474/77) vom 6. Mai 1977 im umständlichen Stasi-Deutsch so formuliert: „Das Anlegen des Operativ-Vorgangs erfolgte im Ergebnis der Analysierung der von Mara erschienenen Artikel und Berichte in der BRD/WB-Presse, die sich vordergründig gegen die Sicherheitsorgane der DDR, insbesondere gegen das Ministerium des Innern richten und die Schlussfolgerungen zulassen, dass Mara über interne Informationen aus diesen Bereichen verfügt.“ Die „Aufklärung, operative Bearbeitung und Kontrolle meiner Person“ sollte mit dem Ziel erfolgen, mich einerseits der Spionage zu überführen und andererseits Kontaktpersonen in der DDR zu ermitteln, die mir „geheim zu haltende Materialien und andere Informationen“ übergaben.



Das MfS reagierte damit auf Veröffentlichungen im Tagesspiegel und anderen Medien, in denen ich aus nicht frei zugänglichen Publikationen der Sicherheitsorgane zitiert hatte wie zum Beispiel „Die Volkspolizei“, „Bereitschaft“, „Der Kämpfer“, „Forum der Kriminalistik“, „Militärwesen“, „Ausbilder“ und „Parteiarbeiter“. Diese Hefte unterlagen nicht der Geheimhaltung, waren aber für den internen Gebrauch bestimmt. Man konnte ihnen interessante Informationen über die Militär- und Sicherheitspolitik der SED sowie über Entwicklungen und Stimmungen in den Sicherheitsorganen der DDR entnehmen, aber auch über Erscheinungen wie Disziplinlosigkeit und Trunksucht in der NVA und Volkspolizei oder schwerwiegende Straftaten, die in den normal zugänglichen DDR-Medien verschwiegen wurden.



Mitte der siebziger Jahren war es mir über eine West-Berliner Bekannte gelungen, an einige dieser internen Publikationen heranzukommen. Dass das MfS nach geraumer Zeit die an der Beschaffung beteiligten Personen identifiziert und meine Bekannte im Anschluss als IM „Susanne Werner“ angeworben hatte, wusste ich damals nicht, ich erfuhr es ebenfalls erst nach der Wende aus den Stasi-Akten. Weder offenbarte sich die Bekannte, noch stoppte das MfS die Lieferungen, was ich im Falle des Bekanntwerdens erwartet hatte. Die Stasi ließ weiter liefern, weil sie sich von meiner Bekannten, die mich regelmäßig beim IWE besuchte, Informationen über meine angebliche „subversive Tätigkeit“ erhoffte.

Nachdem ich 1976 erstmals aus internen Materialien der Volkspolizei in der „Welt“ zitiert hatte, war von der für die abwehrmäßige Sicherung des Innenministeriums zuständigen Hauptabteilung VII/1 der sogenannte „Operativ-Plan“ zu meiner Überwachung ausgearbeitet und ein „verstärkter Kräfteeinsatz von operativen Mitarbeitern“ angeordnet worden. Klaus K., auf dessen Namen man bei der Überprüfung meiner früheren Freunde und Bekannten in der DDR gestoßen war, schien dem MfS als IM besonders geeignet, weil K., SED-Genosse und Offizier, als zuverlässig galt und im Militärverlag tätig war, in dem die internen Publikationen erschienen, an denen ich, wie man inzwischen wusste, Interesse hatte.



Die Stasi rotierte, verfasste seitenlange "Festlegungen"

Das Kalkül der Staatssicherheit ging auf: Ich beantwortete den Kontaktwunsch von Klaus K. positiv und regte – was auch als Test gedacht war – den Austausch „journalistischer Arbeiten“ an, die ein zuverlässiger Kollege überbringen könnte. Den Akten ist zu entnehmen, wie die Stasi rotierte, seitenlange „Festlegungen“ verfasste. Der Vorschlag des Mara sei „zustimmend zu beantworten“, die durch ihn „angestrebten Zusammenkünfte“ seien wahrzunehmen. Die durch Klaus K. zu übermittelnden Briefe seien „vor Übersendung an Mara gründlich zu prüfen und einzuschätzen“, „die eingehende Post des Mara ist analytisch auszuwerten und entsprechend den operativen Erfordernissen sind geeignete Antwortschreiben auf der Grundlage bestätigter Konzeptionen mit dem IMV zu entwerfen und dem Leiter der Abteilung zur Bestätigung vorzulegen“.

Umso größer war dann offenbar die Enttäuschung in der Normannenstraße, dass ich Briefe meist erst nach längeren Pausen beantwortete und mich auch bei Telefongesprächen zurückhielt, die Klaus K. mittlerweile von öffentlichen Fernsprechern in Ost-Berlin mit mir führte und bei denen er sein Interesse an einem Treffen mit einer Vertrauensperson bekundete. Im zweiten Quartal 1980 stellt das MfS in einem der regelmäßigen Berichte zum „Bearbeitungsstand“ fest, dass sich „die Zielperson stark absichert und auch zu den Vorschlägen des IMV eine äußerst abwartende Haltung zeigt“. Die Stasi vermutete, dass ich Zeit gewinnen wolle, um Klaus K. „durch einen imperialistischen Geheimdienst aufklären zu lassen“, was völliger Blödsinn war. In Wirklichkeit wollte ich natürlich auf gar keinen Fall, dass westliche Geheimdienste von dem Kontakt erfuhren.

Weil das MfS nicht ausschloss, dass ich Verdacht geschöpft haben könnte, sollte der „Inoffizielle Mitarbeiter Beobachtung“ (IMB), Deckname „Klaus Günther“, persönliche Motive für seinen Kontakt zu mir stärker betonen. „Durch vordergründige Bezugnahme auf persönliche, insbesondere materielle Interessen, ist ein möglicher Verdacht, dass der IMB im Auftrag des MfS handelt, zu zerstreuen“, heißt es in den Akten. Er wurde deshalb angewiesen, mich um „Hilfe und Unterstützung“ in einer Erbschaftsangelegenheit zu bitten (sein Vater war im Westen verstorben) „und unter diesem Vorwand ein Zusammentreffen mit einem Beauftragten des M.“ anzustreben („Treffbericht“ vom November 1981).

Wegen meiner, wie sie es nannte, „Hinhaltetaktik“ versuchte es die Stasi schließlich mit einem Trick: Sie wies Klaus K. im März 1982 an, „im Interesse der Verschleierung der durch den IMB unternommenen Initiativen“ den Kontakt zu mir abzubrechen. Zuvor hatte man mir sogar die Möglichkeit geben wollen, „kompromittierendes Material“ über Klaus K. zu sammeln, um mein Interesse und das hinter mir vermuteter westlicher Geheimdienste zu steigern. Er sollte bei einer Anwerbung für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit eine „bedingte Zusage“ geben. Doch liefen diese Pläne wegen meines Desinteresses ins Leere.

Erst nach einjähriger Pause rief er im März 1983 auf Weisung des MfS wieder bei mir an, um mir mitzuteilen, dass er jetzt einen privaten Telefonanschluss habe, von dem wir besser telefonieren könnten. Da er mich wiederum um Unterstützung bei seiner Erbschaftsangelegenheit bat, entschloss ich mich viereinhalb Jahre nach der ersten Kontaktaufnahme in Halberstadt, einen Freund und Kollegen unangemeldet zu Klaus K. zu schicken: Achim L. Mit ihm hatte ich mich als Einzigem wiederholt darüber ausgetauscht, was hinter dem Besuch von Klaus K. in Halberstadt stecken könnte und ob ich den Kontakt für meine journalistische Arbeit nutzen sollte. Achim L. brannte darauf, den NVA-Offizier kennen zu lernen.

Am 8. Oktober 1983 klingelt Achim L. unangemeldet an Klaus K.s Wohnungstür in der Allee der Kosmonauten in Marzahn. Klaus K. zeigt sich bei diesem ersten Treffen erfreut und aufgeschlossen. Achim L. sichert ihm unsere Unterstützung bei der Regelung seiner Erbschaft zu, Klaus K. erklärt sich bereit, interne Schriften aus seinem Verlag zu besorgen. Er verlangt, dass ein „sicherer Transport“ gewährleistet sein müsse, weil davon auch „viel für seinen Beruf“ abhänge. Achim L., der zu dieser Zeit oft nach Ost-Berlin fährt, sichert ihm das zu: Er kenne die Praktiken der Kontrollorgane und habe sichere Verstecke in seinem Auto. Falls man die Materialien doch finden sollte, wollte Achim L. angeben, dass er sie in einer Tüte auf einem S-Bahnhof gefunden habe, wo sie wohl vergessen worden seien.

In der Folgezeit traf sich Achim L. mehr oder weniger regelmäßig mit Klaus K. in dessen Wohnung oder in Gaststätten, es entwickelte sich darüber ein fast freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden. Man sprach offen über Privates und über Politik. Von West-Berlin aus kümmerten wir uns um seine Erbschaft. Der NVA-Offizier übergab die bestellten internen Publikationen und nahm kleine oder größere Geschenke entgegen, manchmal auch einen Geldbetrag. Manche Geschenke behielt die Stasi ein, andere durfte er behalten. Bargeld wurde meist in Forum-Schecks umgetauscht, mit denen Klaus K. dann in Intershops einkaufen konnte.

Alle Treffen wurden den Akten zufolge von der Stasi überwacht, die Gespräche in der Wohnung und sogar in Gaststätten aufgezeichnet, sofern das technisch gelang: „Die Tonaufzeichungstechnik entspricht nicht den Anforderungen“, klagten die Überwacher öfter. Zur Gegenkontrolle musste IMB „Klaus Günther“ über jedes Treffen einen Bericht anfertigen, was er mit Akribie tat.

Die Taktik des MfS war zu diesem Zeitpunkt bereits völlig schizophren: Einerseits ermittelte es gegen mich wegen „Spionage und staatsfeindlicher Hetze“ mit dem Ziel, von mir angeblich ausgehende „feindliche und subversive Aktivitäten zu verhindern“. Andererseits ließ man mir ungeniert über zwei IM sensible und nicht frei zugängliche Materialien aus den Militär- und Sicherheitsorganen liefern, auf die ich mich in meinen vermehrten Veröffentlichungen zu militärischen und sicherheitspolitischen Themen berief. Ein nach meinen Erkenntnissen einmaliger Vorgang.



"Vom Tagesspiegel erhält er zur Durchführung der politisch-ideologischen Diversion große Unterstützung"

Mit einigem Aufwand wurde im MfS registriert und analysiert, wann und in welchen Zeitabständen meine Berichte in welchen Medien und zu welchen Themen veröffentlicht wurden. Jedes Zitat wurde überprüft. Weil die meisten meiner Artikel im Tagesspiegel erschienen, stand dieser besonders im Blickfeld des MfS: „Vom Tagesspiegel erhält er zur Durchführung der politisch-ideologischen Diversion große Unterstützung“, konstatierte man am 10. August 1982, um dann penibel aufzurechnen: „Seine Artikel erscheinen in der Regel über 3 Spalten a 45 Zeilen ...“

Da meine Beiträge im Tagesspiegel mit dem Hinweis „Von unserem Mitarbeiter“ gekennzeichnet waren, versuchte das MfS herauszufinden, in welchem Arbeitsverhältnis ich zu der Zeitung stand, was nicht gelang: In einem Vermerk heißt es 1983: „Inwieweit Mara mit diesem Presseorgan ein Arbeitsrechtsverhältnis hat, kann nicht bestätigt werden.“ Offenbar konnte man intern aus dem Tagesspiegel keine Informationen bekommen. In den von mir gesichteten Akten findet sich denn auch kein Hinweis auf einen IM im Tagesspiegel.

Politisch aufschlussreich ist, dass offenbar auch die Partei- und Militärführung im Unklaren gelassen wurde, dass das MfS selbst die internen Materialien aus dem Sicherheitsapparat über Jahre an den leitenden Mitarbeiter eines „Feindobjektes“ (als dieses wurde mein Arbeitgeber, das IWE, eingestuft) lancierte. Wie aus den Akten hervorgeht, gab es im Laufe der Zeit zunehmende Irritationen bei „zentralen Stellen“ über als unpassend empfundene Veröffentlichungen, die auf nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Materialien beruhten.

So kam es zu der Absurdität, dass im Militärverlag, der für den Militärzeitschriften-Vertrieb zuständig war, groß angelegte Überprüfungen gestartet wurden, um einen vermuteten Spion dingfest zu machen. Dann nämlich, als das „ZDF-Magazin“ Ende 1984 einige dieser internen Publikationen vorstellte, die Titelseiten zeigte und Auszüge zitierte. Militärführung und Leitung des Militärverlages reagierten hektisch. IMB „Klaus Günther“ berichtete seinen Führungsoffizieren „informell“, dass ein General der Politischen Hauptverwaltung der NVA im Militärverlag erschienen sei und die Überprüfungen geleitet sowie Maßnahmen angekündigt habe, „damit es dem Gegner schwerer fällt, an diese Materialien zu kommen“.

Einige Monate später gab es neuen Wirbel wegen eines am 29. Mai 1985 von mir im Tagesspiegel erschienenen Artikels „Die DDR-Armee und der Atomkrieg“, der unter anderem auf Szenarien der NVA für einen Kernwaffenkrieg beruhte, die im internen „Ausbilder“ beschrieben wurden. „Zentrale Stellen“ verlangten daraufhin Aufklärung über die Quellen, im Militärverlag erschien nach einem informellen Bericht von IMB „Klaus Günther“ ein „Beauftragter“ des Zentralkomitees der SED, der helfen sollte, das U-Boot ausfindig zu machen. Die für die Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung I listete fein säuberlich die Quellen aller Zitate auf, ließ die Hintergründe aber im Dunkeln.

IMB „Klaus Günther“ informierte Achim L. auf Weisung seiner Führungsoffiziere detailliert über die Vorfälle: Er müsse jetzt „kürzertreten“ und die Übergabe interner Publikationen reduzieren, weil er nicht wisse, was noch für Untersuchungen kämen. Er wolle sich „nicht die Beine weghauen lassen“. Es könne sein, dass die Materialien künftig nur noch gegen Unterschrift ausgehändigt würden und man sie später vielleicht zur Kontrolle wieder vorlegen müsse. Offenbar sollten Achim L. und ich in dem Glauben bestärkt werden, dass Klaus K. „sauber“ sei.

Mit den Irritationen in der Partei- und Militärführung hing möglicherweise die seit Mitte der achtziger Jahre aus den Akten herauszulesende Unzufriedenheit des MfS über die Ergebnisse meiner „operativen Bearbeitung“ zusammen: Man liefere internes Material, das gegen die DDR genutzt werde, bekomme dafür aber nichts, so das Eingeständnis. Vermutlich auch vor diesem Hintergrund war der „Operativ-Vorgang Redakteur“ bereits im Mai 1984 auf „Weisung des Ministers“ von der Hauptverwaltung VII/1 an die Hauptverwaltung II/13 übergeben worden, die eine kritische Bestandsaufnahme verfasste: Die erreichten Ergebnisse seien „ausbaufähig“. Indirekt wurden Fehler aufgelistet: So hätte „Redakteur“ auffallen können, dass die Initiativen zur Kontaktaufnahme vor allem vom IM ausgegangen seien.

Die nun zuständige HA II war für die Aufdeckung und Abwehr geheimdienstlicher Angriffe gegen die DDR zuständig. Der Abteilung 13 oblag unter anderem auch die Überwachung der in der DDR akkreditierten West-Journalisten sowie die „operative Arbeit zum inoffiziellen Eindringen“ in westliche Publikationsorgane.

Einiges spricht für ein Kompetenzgerangel verschiedener Hauptabteilungen des MfS, denn auch die Hauptabteilung I (Äußere Abwehr) drängte wiederholt auf eine Übernahme des IMB „Klaus Günther“. Sie setzte den Akten zufolge durch, dass alle für die Übergabe an Achim L. vorgesehenen internen Materialien mit ihr abgestimmt werden mussten und untersagte zum Beispiel die Lieferung der internen Agitationsordnung der NVA. Das interne „Handbuch für die politische Truppenarbeit“ durfte hingegen geliefert werden.


1986 stellt das MfS fest: Der Nutzen für den Gegner ist größer als der eigene Erkenntnisgewinn


Weil das Exemplar nummeriert und jeder Empfänger namentlich erfasst war, verlangte Klaus K., dass es innerhalb von drei Tagen nach Ost-Berlin zurückgebracht werden müsse. Ich kopierte wichtige Abschnitte des 400-Seiten-Wälzers in einer Nachtaktion. Nachdem Achim L. den Band wieder über die Grenze zurückgeschafft hatte, ließ das MfS laut Akten das Buch kriminaltechnisch untersuchen: um Fingerabdrücke zu sichern und festzustellen, welche Seiten kopiert worden waren. Wie so vieles in dieser Sache auch das ein vollkommen unsinniger Aufwand, eine groß angelegte Verschwendung von Ressourcen.

Anfang 1986 will die HA II/13 dann ernst machen, endlich auch etwas haben von diesem Grenzverkehr: In einer Vorlage zum „Teilabschluss“ des „Operativ-Vorgangs Redakteur“ wird festgelegt, dass Achim L. bei einer Einreise „konspirativ zuzuführen und zu befragen“ sei. Selbstkritisch wird zudem eingeschätzt: „Der Erkenntnisstand des MfS ist nahezu gleich geblieben, der Nutzen für den Gegner dagegen größer.“ Im Ergebnis eines Verhörs von Achim L. soll dann entschieden werden, ob die Einleitung eines Verfahrens mit Haft möglich und politisch sinnvoll sei oder eher ein „Gewinnungsversuch“ beziehungsweise eine Einreisesperre effektiver seien.


Die Juristen des MfS kommen in einer Bewertung allerdings zu dem eindeutigen Schluss, dass ein Verfahren gegen Achim L. wegen Spionage und „subversiver Tätigkeit gegen die DDR“ kaum möglich sei, weil dann auch der NVA-Offizier Klaus K. einbezogen werden müsse, der wiederum im Auftrag des MfS gehandelt habe. Das MfS hatte sich selbst in eine Falle manövriert. Es vergehen dann allerdings noch fast anderthalb Jahre, bis Ende April 1987 der endgültige „Ablaufplan“ zur „Zuführung“ von Achim L. mit dem Ziel seiner Gewinnung als IM beschlossen wird.


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Mit dem blauen Lada wird Achim L. an jenem 20. Mai 1987 von Marzahn in das konspirative Stasi-Objekt „Linde“ gebracht, wo ihn die Stasi-Offiziere Spalteholz und Wittenberg wegen Verdachts des Geheimnis- und Landesverrats befragen. Acht Tage zuvor war die „Zuführung“ von Achim L. mit dem IM „Klaus Günther“ vor Ort in Marzahn geprobt worden. Die Stasi wollte nichts dem Zufall überlassen.



Aber auch Achim L. war nicht unvorbereitet. Ich hatte viele Male mit ihm besprochen, wie er sich im Ernstfall verhalten solle: Klaus K. nicht belasten und alles tun, um so schnell wie möglich nach West-Berlin zurückzugelangen. Genau das tut er. Er beantwortet Fragen wahrheitsgemäß, bestreitet entschieden, dass er oder Mara für einen Geheimdienst tätig seien. Die internen Materialien trügen im Übrigen keinen Vermerk „geheim“ und würden allein zu journalistischen Zwecken ausgewertet. Die MfS-Offiziere argumentieren, Achim L. und Klaus K. hätten Maras „subversive Tätigkeit“ unterstützt und damit „den Interessen der DDR geschadet“. Sie drohen mit einem Strafverfahren. Gegen 22 Uhr machen sie eine Pause, greifen danach auf einen alten Vernehmertrick zurück: Klaus K. sei inzwischen befragt worden, er sehe sein Fehlverhalten ein und sei zur „Wiedergutmachung“ bereit.



Daraufhin gibt auch Achim L. seine Bereitschaft zur „Wiedergutmachung“ zu erkennen und formuliert handschriftlich die geforderte Erklärung. Er tue das, damit Klaus K. keine Probleme bekomme. Kurz nach Mitternacht wird Achim L. zu seinem zwischenzeitlich durchsuchten Wagen zurückgebracht. Die zur Übergabe vorgesehenen internen Materialien darf er mitnehmen. 45 Minuten nach Mitternacht ist Achim L. wieder in West-Berlin – erschöpft, aber frei. Um ein Uhr nachts treffen wir uns zur „Krisenbesprechung“.



Für mich stand natürlich fest, dass Achim L. nicht mehr nach Ost-Berlin fahren konnte. Aufgrund der Art und Weise, wie die „Zuführung“ verlief, waren wir ziemlich sicher, dass Klaus K. für das MfS arbeiten musste. Beim MfS war man hingegen überzeugt, sich so geschickt verhalten zu haben, dass Achim L. keinen Verdacht geschöpft haben konnte. „Die Konspiration des IM ,Klaus Günther‘ wurde voll gewahrt.“

In den zwei Jahren bis zur Wende hakte Klaus K. mehrmals nach, wann Achim L. wieder nach Ost-Berlin kommen werde. Weil wir am Telefon nicht offen sprechen wollten, reagierten wir mit Ausflüchten. Aber gleich nach dem Mauerfall riefen wir ihn an und luden ihn zu einem Treffen in die Wohnung von Achim L. in Tempelhof ein. Spannung lag in der Luft, als der NVA-Oberstleutnant am nächsten Tag erschien. Wir sagten ihm auf den Kopf zu, dass er im Auftrag des MfS gehandelt haben müsse. Er bestritt hartnäckig. Nach zwei Stunden verabschiedeten wir ihn, seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.



In den Stasi-Akten wird IM „Klaus Günther“ eine „vorbildliche und hohe Einsatzbereitschaft“ bescheinigt. Die Stasi dankte ihm mit Prämien und Geschenken. Die Akten enthalten auch Hinweise auf sein Motiv: Er erwartete als Gegenleistung für seine informelle Mitarbeit die Unterstützung des MfS bei seinem nach 25-jähriger NVA-Zugehörigkeit geplanten Wechsel in den zivilen Journalismus im Jahr 1991. Er strebe einen Job beim Rundfunk oder Fernsehen der DDR, beim „Neuen Deutschland“ oder bei der staatlichen Nachrichtenagentur ADN an, der mit Auslandseinsätzen verbunden sei, sagte er seinen Führungsoffizieren. Und bot beflissen an, das MfS dann weiterhin „inoffiziell zu informieren“. Aus einem der letzten vorliegenden „Treffberichte“ von Ende 1988 geht hervor, dass seine Führungsoffiziere prüfen lassen wollten, in welcher Redaktion „ein erfahrener Kader gebraucht wird“. Zum Wechsel kam es nicht mehr, weil bald darauf die Mauer fiel – zwei Jahre vor dem Ende der 25-jährigen NVA-Dienstzeit von Klaus K.



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Verwunderlich ist wie so vieles an dieser Geschichte auch das weitere Verhalten der Staatssicherheit: Obwohl der Plan gescheitert war, Achim L. als IM zu gewinnen, ließ sie mir durch meine West-Berliner Bekannte, IM „Susanne Werner“, weiterhin internes Material der Sicherheitsorgane liefern – bis zum Mauerfall. Das MfS hätte sich die Mühe allerdings sparen können. Spionage für einen westlichen Geheimdienst konnte mir, wie auch in den Akten bestätigt wird, nicht nachgewiesen werden, und auch sonst waren die Erkenntnisse der zwölfjährigen „operativen Bearbeitung“ des „Redakteurs“ äußerst dürftig.


Wie die Stasi mich entführen wollte

Auch nach dem Mauerbau hat das MfS Kidnapping als politisches Kampfmittel eingesetzt

VON MICHAEL MARA  - 10.08.2011 - Der Tagesspiegel

Vor dem Mauerbau, von 1950 bis 1961, hat das MfS nach Schätzungen 600 bis 1000 Menschen im Westen entführen lassen. Bei dem Opfern handelte es sich vor allem um Überläufer aus SED, Volkspolizei, NVA und dem MfS selbst. Zu den bekanntesten Opfern zählen der einstige Gewerkschaftsjournalist und Ost-Berliner SED-Funktionär Heinz Brandt, der 1958 in den Westen geflohen war und kurz vor dem Mauerbau 1961 entführt wurde, sowie der ebenfalls aus der DDR stammende Journalist und Autor Karl-Wilhelm Fricke, der 1955 gekidnappt wurde. Beide haben mehrere Jahre im Zuchthaus gesessen, bevor sie von der Bundesregierung freigekauft werden konnten. Weniger bekannt ist, dass die Stasi auch nach  dem Mauerbau Kidnapping noch längere Zeit als politisches Kampfmittel benutzt hat.

In meinem Fall ist die Hartnäckigkeit auffallend, mit der die  Hauptabteilung (Abwehrarbeit in NVA und Grenztruppen) von 1962 bis 1970  versuchte, mich in ihre Gewalt zu bekommen. Wie aus den Akten hervorgeht lautete der Befehl: „Operative Bearbeitung des Mara mit dem Ziel seiner Inhaftierung“.

Nach dem Mauerbau war ich als Grenzsoldat rekrutiert worden und bald darauf in Uniform und mit Waffe nach Berlin-Wannsee geflüchtet. Nicht die Fahnenflucht an sich war, wie aus den Unterlagen hervorgeht, der Grund für verschiedene Entführungspläne, sondern die Tatsache, dass ich in West-Berlin Vorträge an Schulen über die Grenztruppen und den Ausbau der Mauer hielt, die Ausstellung am Checkpoint Charlie mit aufbaute, und als Journalist Artikel und Analysen über das Grenzsystem der DDR publizierte. Für die Stasi waren das „staatsfeindliche Handlungen“, die akribisch erfasst wurden. 

Einen ersten konkreten Entführungsplan gab es 1963: Da ich öfter den Ausbau der Grenzanlagen an meinem Fluchtort im Südwesten Berlins in Augenschein nahm und darüber unter anderem im SFB berichtete, fasste die Stasi den Plan, mich beim Auftauchen an der Grenze in einen Hinterhalt zu locken und festzunehmen. Ich hatte wohl bemerkt, dass mein Erscheinen an der Grenze jedes mal hektische Aktivitäten auslöste: Meine ehemaligen Kameraden telefonierten, Offiziere rasten in einem Jeep heran und gaben Befehle, es wurden Fotos von mir und meinem Auto gemacht. Einer meiner früheren Offiziere rief mir einmal zu: „Wir kriegen Dich Verräter noch!“. Als junger Spund ist man sorglos und ich fühlte mich sicher. Doch ein Redaktionsleiter des SFB warnte mich damals eindringlich und hielt mich von weiteren Besuchen am Ort meiner Flucht ab.

Die Stasi, die mich nach den Akten ständig überwachte, gab die Entführungspläne nicht auf. 1966 stellte sie in einem Bericht fest, dass das Ziel, mich in die DDR zu bekommen, noch nicht realisiert werden konnte, weil keine Personen festgestellt worden seien, „über die eine zielstrebige Bearbeitung des Mara“ hätte erfolgen können. Mit anderen Worten: Man suchte jemanden, der mich in eine Falle locken sollte.

1967 meldete dann die Bezirksverwaltung Leipzig des MfS der Hauptabteilung I in Berlin stolz, dass sie über den  IM  „Bettembourg“ verfüge, der „zum Freundeskreis des Mara“ gehöre. Das war zwar übertrieben. Der Stasi-Spitzel hatte mich im Mauermuseum am Checkpoint Charlie angesprochen, sich als Kollege von „Radio Luxemburg“ ausgegeben und immer wieder den Kontakt zu mir gesucht. Er stammte aus der DDR, seine Eltern lebten in Leipzig. In einer Einschätzung wird der damals 25-jährige so beschrieben: Zuverlässig, durchschnittlicher Intellekt, naiv, robust.

Die Hauptabteilung I witterte Morgenluft und ordnete an, den IM als Lockvogel zur „Habhaftwerdung des Mara durch Anwendung spezieller Mittel“ einzusetzen, wie das geplante Kidnapping im Stasi-deutsch umschrieben wurde. In einem „Sachstandsbericht“ der „Hauptabteilung I Abt. Koordinierung“ vom 21.Februar 1968 wird auf Seite 6 folgendes Entführungs-Szenario dargestellt: „Mit Hilfe des IM der BV-Leipzig wird Mara an einem bestimmten Ort den Kräften des Referates 1/V zugeführt. Von hier erfolgt die Schleusung des M. in die Hauptstadt der DDR. Mara wird in einer Gaststätte betrunken gemacht durch den IM… und anschließend durch Kräfte des Referates I/V übernommen und mit Pkw geschleust“. Eine Variante sah vor,  mich im Bahnhof Friedrichstraße bei einer Durchfahrt mit der S-Bahn von West nach West (was damals ohne Kontrolle möglich war) festnehmen zu lassen -  von als Grenzposten verkleideten Stasi-Trupps. Den Tipp sollte „Bettembourg“ liefern. 

Aber diese Variante erschien der Stasi offenbar nicht besonders Erfolg versprechend. So wurde im Laufe des Frühjahrs 1968 der Plan mit preußischer Gründlichkeit  konkretisiert, mich in einer Gaststätte betrunken zu machen und dann nach Ost-Berlin zu schaffen. Die größten Probleme bereitete es dem MfS paradoxerweise, eine geeignete Gaststätte in der Nähe meiner damaligen Wohnung in der Helmstedter Straße zu finden, was nicht verwunderlich ist angesichts der merkwürdigen Kriterien, die ein Hauptmann Hackenschmidt aus dem Entführungs-Referat V am 21. März 1968 aufstellte:

 „1. Die Gaststätte soll für auswärtige Besucher einen einladenden Eindruck machen. 2. Es muss beachtet werden, dass in der Gaststätte an Sonntagen Tanzveranstaltungen stattfinden. 3. Das Preisniveau soll nicht zu hoch liegen. 4. Es müssen Voraussetzungen für eine Beobachtung  (Außenbeobachtung) der Gaststätte gegeben sein. 5. Über Besonderheiten der Gaststätte und 2-3  Bedienungskräfte sind genaue Beschreibungen zu erarbeiten.“

In einem längeren Sachstandsbericht vom 29. März 1968 stellen die von der Stasi entsandten Aufklärer lapidar fest: „In dieser Gegend ist es sehr schwierig eine Gaststätte zu finden, welche allen geforderten Ansprüchen gerecht wird.“ Die Entführung in einer Bar im Erdgeschoss meines damaligen Wohnhaus zu inszenieren, erschien der Stasi zu gewagt. Der Kneipier oder Hausbewohner hätten den Vorgang beobachten können. Deshalb sollte  die Operation in der Gaststätte „Dortmunder Hansa Faß“ in der Nähe des Prager Platzes stattfinden. Sonntags fand dort zwar kein Tanz statt, aber immerhin machte die Gaststätte nach dem Bericht der „Aufklärer“ einen einladenden Eindruck und das Preisniveau war auch nicht zu hoch.

Am 28. Mai kommt die Kidnapping-Abteilung des MfS in einem längeren Sachstandsbericht zu dem Schluss, dass der Entführungs-Plan „im Moment günstige Voraussetzungen zu seiner Realisierung“ biete. Der Ablauf der Operation wird auf sechs Seiten detailliert festgelegt. In Kurzform: der Lockvogel ruft mich abends an und bittet mich, auf ein Bier in die Kneipe zu kommen. Er lässt mich „viel erzählen“, animiert mich „zum übermäßigen Alkoholgenuss“,  schüttet mir während eines Gangs zur Toilette k.o.-Tropfen ins Bier. Wenn ich nicht mehr Herr meiner Sinne bin, schleppt er mich zur Tür, wo ihm drei scheinbar zufällig vorbei laufende junge Männer freundlich zu Hilfe kommen sollten. .

In Wirklichkeit handelt es sich um die speziell ausgebildete dreiköpfige Schleusergruppe „Fahnenfluchten“, Leitung der GME (Geheime Mitarbeiter für Westeinsätze) „Helmut Jacob“. Ein weiterer dreiköpfiger Trupp, „Leitung GM/E Horst Hohmann“, sichert die ganze Aktion. Beide Trupps wurden auf alle Eventualitäten vorbereitet: Komme es bei der  Entführung zu Störungen, werde „die Aktion als eine Prügelei legendiert“, heißt es im Plan. Auch Fahrtroute und Grenzübergang sind festgelegt: Keiner der innerstädtischen Übergänge, wo es mehr Beobachter gegeben hätte, sondern Dreilinden.   

Die Entführung wurde mehrmals verschoben, weil der IM „Bettembourg“ laut einer Einschätzung vom 6. Juni „nicht zielstrebig  um die Herstellung einer Verbindung zu dem M. kämpfte“. Nach einer „intensiven Bearbeitung“ des IM sollte sie schließlich endgültig am Abend des 19. Juni über die Bühne gehen.

„Bettembourg“,  war genau instruiert. Nach der Aktion soll er in seine West-Berliner Wohnung zurückkehren, aber am nächsten Tag in Ost-Berlin erscheinen, wo die Stasi über seinen weiteren Einsatz im Westen  entscheiden wollte.

Ich kann mich noch genau an seinen Anruf erinnern: Er bettelte förmlich, dass ich ins „Fass“ kommen solle. Natürlich habe ich nicht im Entferntesten an eine Entführung gedacht. Es war eher ein diffuses Bauchgefühl, das mich davon abhielt, die Einladung anzunehmen. Eine halbe  Stunde später rief er noch mal an und wollte bei mir zu Hause vorbei kommen, weil er nur noch einen Tag in Berlin sei. Der „Plan B“ -  doch auch darauf ging ich nicht ein.
So platzte meine mit großem Aufwand vorbereitete Entführung wegen eines Bauchgefühls,  die  Kidnapper-Trupps  mussten unverrichteter Dinge nach Ost-Berlin zurückkehren.

Die Stasi machte für die gescheiterte Entführung „Bettembourg“  verantwortlich, weil dieser keinen engeren Kontakt zu mir herstellen konnte. In einem Bericht vom 1. August 1968 zieht das MfS die Konsequenz: „Bettembourg wird nicht mehr einbezogen.“ Der Entführungsplan wird aber nicht aufgegeben. Ein Jahr später, am 21. Mai 1969, gesteht die Stasi in einem Abschlussbericht ein:„Die Entführung ist nicht erfolgreich zu realisieren.“
Es hatte sich kein geeigneter Lockvogel gefunden.

Ein Kurswechsel beim Kidnapping zeichnete sich erst Ende 1970 ab: Die „Inhaftierung“ des Mara, der in West-Berlin journalistisch tätig sei, durch „unser Organ“ würde zuviel Staub aufwirbeln und der Politik von Partei und Regierung Schaden zufügen, heißt es in einem Bericht.  Die Kidnapping-Pläne waren damit passe. 


Das merkwürdige Schweigen der IM „Bettembourg“ und „Klaus Günther


Von Michael Mara 


Rund 110 000 Informelle Mitarbeiter haben im Auftrag des MfS spioniert, über mich haben im Laufe von rund 25 Jahren über ein Dutzend IM Informationen an die Stasi geliefert. Was allen Spitzeln gemeinsam ist: Nicht ein einziger hat sich nach der Wende bei mir gemeldet, um seine Motive zu erklären, sich vielleicht auch zu entschuldigen. Diese Erfahrung haben auch andere Betroffene gemacht. Das Schweigen der IM ist ein merkwürdiges Phänomen.

Erwartet hätte ich besonders von zwei IM, dass sie „klar Schiff“ machen. Der eine, Tarnname „Bettembourg“, sollte mich nach meiner Flucht als Grenzsoldat über die Mauer in eine Falle locken, weil die Stasi mich in den sechziger Jahren nach Ost-Berlin entführen wollte. Der andere, Tarnname „Klaus Günter“ wurde in den achtziger Jahren benutzt, um meine DDR-kritische journalistische Arbeit in West-Berlin zu überwachen, weil die Stasi meinte, mich so „unter Kontrolle“ halten zu können. Von der IM-Tätigkeit der beiden erfuhr ich erst nach der Wende aus den Stasi-Akten. Sie erlauben interessante Rückschlüsse auf Motive und Charakter der beiden Zuträger. 

„Bettembourg“ sprach mich Mitte der sechziger Jahre im Mauer-Museum von Rainer Hildebrandt am Checkpoint Charlie an, wo ich Vorträge über das DDR-Grenzregime hielt. Er war ein junger Mann in meinem Alter, stellte sich als Bernd Schwenke vor. Er stamme aus Leipzig, sei vor dem 13. August 1961 in den Westen „abgehauen“ und arbeite jetzt für „Radio Luxemburg“. Letzteres nahm ich ihm nicht ab, ich hielt ihn für einen Schwätzer, der sich interessant machen wollte. Auch in einem Aktenvermerk der Hauptabteilung I, Abt. Koordinierung, vom  20. Februar 1968  wird er als „sehr mitteilungsbedürftig“ eingeschätzt. Seine Führungsoffiziere hielten ihn trotz seiner Prahlsucht letztlich aber für „zuverlässig“. „Intellektgrad liegt im Durchschnitt. Naiv, robust“. Sein Auftrag: „Der IM führt den M. (also mich) in Westberlin der Schleusergruppe des  Referates I zu“.       

In einer aufschlussreichen „Einschätzung über den IM Bettembourg, Reg.-Nr. XV/56/67“, vom 24. Mai 1968 durch die Abteilung XV der Stasi-Bezirksbehörde Leipzig heißt es, dass sich Schwenke bei der Kontaktaufnahme zunächst „ablehnend gegenüber einer Einbeziehung in die nachrichtendienstliche Tätigkeit“ verhielt. „Erst als ihm zu verstehen gegeben wurde, dass wir die  Arbeit entsprechend finanziell belohnen würden, zeigte er sich zur Arbeit bereit.“ Negativ gesehen wird, dass er ständig versuche, aus seiner Spitzel-Tätigkeit „soviel persönliche Vorteile als möglich herauszuschlagen“. Bei der Erfüllung der Aufträge zeigte er sich laut dieser Einschätzung „willig und skrupellos“. So habe er versucht, finanzielle Vorteile aus der Verhaftung einer „von ihm getippten Person“ zu erlangen.  


Über meine geplante Entführung war Schwenke offenbar nicht informiert: In dem schon erwähnten Dokument vom 24. Mai ist von einer „unbewussten Ausnutzung bei der Schleusung von Mara“ die Rede. „Eine bewusste Ausnutzung ist nicht möglich, da die Gefahr besteht, dass er Mara gegenüber dann nicht glaubwürdig auftreten und eine gegebene Legende echt vertreten kann.“ Es gab verschiedene im Detail ausgearbeitete Entführungspläne die alle darauf hinausliefen, dass Schwenke mich in einer Gaststätte betrunken machen und ich dann beim Verlassen oder auf dem Heimweg von zwei motorisierten Entführungs- und Sicherungstrupps aus je drei Stasi-Mitarbeitern beobachtet, angesprochen, betäubt in ein Auto verfrachtet und in die DDR gebracht werden sollte. 

Die Stasi musste die Pläne schließlich aufgeben, weil es Schwenke nicht gelungen war, mein Vertrauen zu gewinnen und mich an vorgesehenen Terminen in Gaststätten zu locken, was er penetrant versucht hatte. Im „Abschlussbericht“ der Hauptabteilung I,  Abteilung Operativ, vom 21. Mai 1969  heißt es, dass in der „operativen Bearbeitung des Mara Schwerpunkt auf seine Habhaftwerdung durch Anwendung spezieller Mittel gelegt“ wurde. Es sei jedoch nicht gelungen, „den hierzu notwendigen Zufluss an Informationen zu sichern, um risikolos den Erfolg der speziellen Maßnahmen zu gewährleisten“. 1970 wurden die Entführungspläne ganz aufgegeben: “Die Inhaftierung des M., der in Westberlin journalistisch tätig ist, hätte viel Staub aufgewirbelt und der Politik von Partei und Regierung Schaden zugefügt.“ 


Ob Schwenke weiter für die Stasi spionierte, weiß wohl nur er selbst. Seine in der Bezirksbehörde Leipzig des MfS geführte IM-Akte ist offenbar im Wende-Herbst 1989 vernichtet worden. Aus den mir vorliegenden Akten geht aber hervor, dass die Bezirksbehörde Leipzig des MfS weitere Aufträge für ihn hatte. 


Ich hatte schon seit 1969 nichts mehr von ihm gehört, habe ihn aber nach Durchsicht meiner Stasi-Akten schon vor längerer Zeit in Luxemburg ausfindig gemacht. Er arbeitete natürlich nie bei Radio Luxemburg, sondern selbständig als Elektro-Installateur und Computer-Experte, wie aus seiner Homepage hervorgeht. Ich schrieb ihm eine mail und konfrontierte ihn mit dem Inhalt meiner Akten, worauf hin er sich in seiner Antwort bei mir entschuldigte. Den Vorschlag, gemeinsam mit mir bei einer Podiumsdiskussion in Berlin aufzutreten und seine damaligen Motive zu erläutern, lehnte er ab.

Paradoxerweise versuchte die Stasi etwa zur gleichen Zeit, als Schwenke auf mich angesetzt war, einen Jugendfreund aus Gera als IM und „Lockvogel“ zu gewinnen: Ich hatte Klaus König im Auftrag des Verlages „Junge Welt“, wo ich vor meiner Flucht arbeitete, als Korrespondent für die Kinder- und Jugendpresse geworben. Ich kannte seine Familie, nach meiner Flucht unterhielten wir Briefkontakt, hin und wieder schickte ich auch Päckchen nach Gera. Der Kontakt fiel der Abteilung XX/5  (Postüberwachung) der Stasi-Bezirksbehörde in Gera auf. Diese wollte König sogleich zur „Bearbeitung des M.“ als IM mit dem Ziel gewinnen, „den Mara zu ziehen und ihn dann strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können“. Allerdings sträubte sich König: „Er lehnt es ab, mit uns inoffiziell zusammen zu arbeiten“, stellte die Abteilung XX/5 am 17.11.1964 fest. Er sei ängstlich und nicht ehrlich und besitze „nicht die erforderlichen Qualitäten eines IM unseres Organs“.  


15 Jahre später, im Sommer 1979, hat König keine Skrupel mehr, sich als  IMV (IM mit Feindberührung, später IMB) unter dem Decknamen „Klaus Günther“ vom MfS zu meiner „operativen Bearbeitung“ anwerben zu lassen. Die Stasi hatte 1977 einen neuen „Operativorgang ‚Redakteur‘“ (Reg.-Nr. XV/2474/77) angelegt, um meine Tätigkeit beim Informationsbüro West (IWE) und meine kritische DDR-Berichterstattung zu überwachen und vermutete Quellen in der DDR ausfindig zu machen. König, inzwischen Diplom-Journalist und Redakteur im Ost-Berliner Militärverlag im Range eines Hauptmanns der NVA, stellte den Kontakt zu mir über meine Großeltern in Halberstadt her. In einer Beurteilung aus dem Jahr 1979 hebt das MfS seine „hohe Einsatzbereitschaft“ hervor, er arbeite „ehrlich und zuverlässig“ mit dem MfS zusammen. 


In den achtziger Jahren war König dann die Hauptperson einer merkwürdigen Agenten-Groteske: Obwohl das MfS gegen mich wegen „Verdachts der Spionagetätigkeit“ und „staatsfeindlicher Hetze“ ermittelte, ließ es mir jahrelang über König interne Publikationen aus dem Militär- und Sicherheitsbereich zukommen, die ich für meine von der Stasi als „staatsfeindlich“ bewerteten Veröffentlichungen nutzte. König telefonierte oft mit mir, wollte sich mit mir unbedingt im „sozialistischen Ausland“ treffen, was ich ablehnte, weil die Stasi Zugriff auf mich gehabt hätte. Aber ich schickte einen Boten nach Ost-Berlin, den er systematisch ausforschte, bevor er ihn am 20. Mai 1987 in eine vorher mit der Stasi geprobte Falle lockte und hochgehen ließ (die ganze Geschichte wird ausführlich in „Operativ Vorgang ‚Redakteur‘ erzählt).  


Gleich nach dem Mauerfall kam König, inzwischen Oberstleutnant der NVA, auf meine Bitte hin zu einem Besuch nach West-Berlin. Er bestritt auf meine Vorhaltungen heftig, für das MfS gearbeitet zu haben. Endgültige Klarheit über seine wichtige Rolle für das MfS lieferten erst meine Stasi-Akten. Im Gegensatz zum IMB „Bettembourg“ hatte „Klaus Günther“ wohl keine finanziellen Motive für seine IM-Tätigkeit, obwohl er ab und an von der Stasi Geschenke bekam. Ihm ging es um seine berufliche Karriere. Schon zu Beginn der Zusammenarbeit mit ihm hatte die Hauptabteilung VII in Einsatz-Festlegungen vermerkt, dass er „seine weitere perspektivische Entwicklung“ als Journalist im zivilen Bereich sehe. Er wolle Auslandskorrespondent werden. König hoffte, dass das MfS ihm diese Karriere ermöglichen würde. Die Wende kam dazwischen.

Bei mir gemeldet hat sich König seit jener frostigen Begegnung unmittelbar nach dem Mauerfall nicht mehr: Ich habe vergeblich versucht ihn ausfindig zu machen, um mit ihm diese Stasi-Geschichte aufzuarbeiten. Allerdings hat sich nach der Veröffentlichung von „Operativ-Vorgang 'Redakteur'“ einer seiner früheren Offiziers-Kollegen aus dem Militärverlag bei mir gemeldet. Von ihm erfuhr ich, dass sich König nach der Wende zunächst als freier Fotograf und Mitarbeiter eines Pressedienstes durchgeschlagen hat. Das merkwürdige Schweigen seines Kollegen erklärt er so: Dieser habe sich „aus Scham“ nicht mehr gemeldet. Bis heute frage ich mich, warum König bei unserem Treffen nach dem Mauerfall nicht den Mut hatte, klar Schiff zu machen. Wie hatte ein Stasi-Mann ihn beim ersten Anwerbeversuch 1964 beurteilt? Er sei ängstlich und nicht ehrlich…


Fahnenfluchten

Tausende Grenzwächter flüchteten
Stasi konstatierte eine „wachsende Gesellschaftsgefährlichkeit“ 

VON MICHAEL MARA

Einst hochrangige Offiziere der NVA spielen das Thema auch heute noch herunter: Fahnenflucht gebe es doch in jeder Armee der Welt. Das ist richtig, dennoch kann als sicher gelten: In keiner Armee Europas und wahrscheinlich auch darüber hinaus sind in Friedenszeiten so viele Soldaten und Offiziere desertiert wie in den „bewaffneten Organen“ der DDR.

Es gibt keine offizielle Statistik über die Gesamtzahl der Fahnenflüchtigen, was auch damit zusammen hängt, dass das Thema in der DDR tabu war. Doch sollen nach westlichen Schätzungen  vom Zeitpunkt der Gründung des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ 1949 bis zum Mauerbau weit über 20 000 Angehörige „bewaffneter Organe“ und insbesondere der Grenzpolizei und späteren Grenztruppen die Seiten gewechselt haben.

Aber auch nach dem 13. August 1961 bis zum Ende der DDR sind viele Angehörige der NVA und vor allem der Grenztruppen in den Westen geflohen, oft unter Lebensgefahr. Besonders groß war die Zahl der Deserteure in den Monaten nach dem Bau der Mauer. In einer Information für den Nationalen Verteidigungsrat zum politisch-moralischen Zustand der Grenztruppen aus dem Jahr 1963 wird die Flucht Hunderter Grenzwächter als „ernstes Signal“ gewertet. Danach haben 1962, also im Jahr nach dem Mauerbau, rund 600 Soldaten die Seiten gewechselt, im ersten Halbjahr 1963 waren es immerhin noch 158. Erst 1968 sollen erstmals weniger als 100 Grenzer im Jahr geflüchtet sein.

Auch das ist noch eine beachtliche Zahl, denn die Grenzsperren mit Minenfeldern und Selbstschussanlagen wurden zügig so ausgebaut, dass sie eigentlich unüberwindbar waren. Parallel wurde das Überwachungssystem innerhalb der Grenztruppen perfektioniert. Die Stasi hatte ihre Spione in jeder Einheit, sogenannte „unsichere Kantonisten“ wurden umgesetzt.  Außerdem ging man dazu über, ältere und verheiratete Soldaten als Mauerwächter einzusetzen, weil sie als weniger „fluchtanfällig“ als ungebundene junge Männer galten.

Dass das MfS intensiv nach Gegenstrategien gesucht hat, geht aus dem Tagesspiegel vorliegenden Dokumenten hervor. Anfang 1973 erarbeitete die Hauptabteilung I Äußere Abwehr„erstmals eine analytische Bewertung“ der Entwicklungstendenzen bei den Fahnenfluchten und der Konsequenzen daraus, denn: „Ausgehend  von der Tatsache, dass im Zeitraum von Januar 1969 bis Dezember 1972 insgesamt 220 NVA-Angehörige aller Waffengattungen, besonders aber Angehörige der NVA-Grenze fahnenflüchtig wurden, kann man ermessen, in welchem Maße die politisch-ideologische Diversion innerhalb der NVA wirksam ist und wie hoch der Umfang des Verrats gegenüber imperialistischen Geheimdiensten sein muss.“

Das MfS versuchte auf zwei Wegen  gegenzusteuern: Zum einen durch den Ausbau des Spitzel- und Überwachungssystems in den Grenztruppen, um Fahnenfluchten möglichst schon im Planungsstadium zu verhindern. Zum anderen durch die gezielte „operative Bearbeitung“ vieler in den Westen gelangter Deserteure. Ziel: Sie als informelle Mitarbeiter (IM) zu gewinnen oder durch Druck zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, um sie „ihrer gerechten Strafe“ zuzuführen.    

Die Erfolgsaussichten werden in der Analyse allerdings als zunehmend schlechter eingeschätzt.  Zwar sei die Zahl der geflüchteten NVA-Angehörigen 1972  im Vergleich zu 1969, 1970 und 1971 um die Hälfte auf 32 zurückgegangen. Doch stellt der Autor „eine ansteigende Tendenz im Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit“ der Fahnenfluchten fest, die sich darin zeigt, dass der Anteil der „besonders schweren Fälle“ (Offiziere, Gruppenfluchten und Gewaltanwendungen) von 26,5 Prozent im Jahr 1969 auf 55 Prozent 1972 gestiegen sei.

Die wachsende „Gesellschaftsgefährlichkeit“ sieht Heckel auch dadurch gegeben,  dass die Zahl der fahnenflüchtigen inoffiziellen Mitarbeiter des MfS in den Grenztruppen angestiegen sei: Von 1969 bis 1972 seien insgesamt 13 inoffizielle Kräfte fahnenflüchtig geworden, „die zum Teil über erhebliche Kenntnisse bezüglich der Arbeitsweise, des Einsatzes der Kräfte und Mittel als auch der Methoden des MfS verfügen“.
 
Heckel zieht die Schlussfolgerung: „Da sich die Mehrzahl der Täter sowohl über Tragweite und Auswirkungen ihrer Handlungen als auch ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit völlig im klaren ist“, seien „zwangsläufig  geringere Chancen  für eine operative  Bearbeitung mit dem Ziel der  operativen Nutzung gegeben“. Von den 220 Fahnenflüchtigen der Jahre 1969 bis 1972  seien  39 „aktiv operativ bearbeitet“ worden. Bemerkenswert: Zehn davon konnten laut  Analyse „für die operative Nutzung gewonnen“ werden. Allerdings werden keine näheren Angaben dazu gemacht.

Das Problem der Desertion beschäftigte das MfS und die NVA-Führung bis zur Wende. Die letzte „Analyse ausgewählter Komplexe zum Fahnenfluchtgeschehen“ stammt vom 30. Juni 1989. Danach gelang vom 1.1.1983 bis 30.4.1989 trotz nicht mehr weiter zu perfektionierender Grenzsperren immerhin noch 94 Grenzsoldaten die Flucht. Jeder zweite Entschluss sei „spontan und anlassbedingt“ gefasst worden, doch wird festgestellt, dass die Tendenz zur Planung „ansteigend“ sei, was 1989 „besonders deutlich“ werde.  

Als Motive für  Fahnenflucht nennt diese letzte Analyse „eine mangelhaft ausgeprägte bis fehlende politische Bindung an die DDR“. Hinzu kommen Eigenschaften wie Labilität, leichte Beeinflussbarkeit, Abenteuerlust, aber auch Konflikte in den Partnerbeziehungen sowie dienstliche Probleme. Aufschlussreich das Eingeständnis, dass im untersuchten Zeitraum 1983 bis1989 trotz der zahlreichen IMs in der Grenztruppe dem MfS nur in einem Fall „ein direkter Hinweis auf eine mögliche Fahnenflucht vor deren Realisierung“ gegeben wurde.  

Die Analyse vom Sommer 1989 stellt schließlich fest, dass etwa 70 Prozent der Fahnenflüchtigen „keinerlei ernsthafte Probleme bei der Integration in das berufliche und gesellschaftliche Leben“ der Bundesrepublik hätten. Bei einem Viertel der Fahnenflüchtigen verlaufe der Integrationsprozess widersprüchlich, davon lebten 10 Prozent  in einer permanenten Konfliktsituation. Hier wollte das MfS mit verstärkter „operativer Bearbeitung“ ansetzen, doch dazu kam es nicht mehr.


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60 Jahre Pnn - Potsdamer Nischen-Journalismus

VON MICHAEL MARA 30.04.2011 - Potsdamer Neueste Nachrichten

Lektüre oft ohne Lustfaktor: Der spätere „Tagesspiegel“-Korrespondent Michael Mara wertete ab 1963 für den Westen alle DDR-Lokalzeitungen aus – die „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“ gehörten zu den besseren

Was viele nicht wissen: Die PNN, zu DDR-Zeiten „Brandenburgische Neueste Nachrichten“ (BNN), ist vor der Wende auch sehr aufmerksam im Westen gelesen worden. Aus beruflichen Gründen auch vom Autor dieser Zeilen, der auf der anderen Seite der Mauer vielleicht der einzige war, der die BNN über ein Vierteljahrhundert regelmäßig gelesen hat. Und der ihre Wandlung vom mickrigen Blättchen einer im Fahrwasser der SED schwimmenden „Blockpartei“ zu einer freien und unabhängigen Qualitäts-Zeitung nicht nur mit einigem Abstand aus dem Westen mit verfolgen, sondern nach dem Fall der Mauer als Journalist persönlich auch aktiv begleiten konnte.

Aber der Reihe nach: Erstmals in der Hand hatte ich das dünne Blättchen im Sommer 1964. Damals fing ich als junger Redakteur beim Informationsbüro West (IWE) in West-Berlin an. Das IWE wertete im Auftrag des gesamtdeutschen und später innerdeutschen Ministeriums die gesamte DDR-Presse aus und veröffentlichte die interessantesten News in einem täglich erscheinenden Pressedienst. Sie wurden von vielen westlichen Medien weiter verbreitet. Auf diese Weise sollte zur besseren Information über Entwicklungen und Stimmungen im Osten Deutschlands sowie über lokale Ereignisse beigetragen und das Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Deutschen im Osten gestärkt werden.

Allerdings war es nicht einfach, an die Lokalzeitungen heranzukommen. Die DDR lieferte zwar gegen harte Devisen „Neues Deutschland“, „Junge Welt“, „Tribüne“ und die anderen in der „Hauptstadt der DDR“ erscheinenden zentralen Zeitungen sowie auch die meisten Zeitschriften an einen darauf spezialisierten Zeitungsvertrieb in West-Berlin. Doch die Lokalzeitungen konnte man auf diesem offiziellen Weg nicht beziehen. Gründe für die Ausfuhrsperre, die übrigens bis zur Wende bestehen blieb, wurden offiziell nie genannt. Doch liegt die Vermutung nahe: Die SED wollte verhindern, dass Informationen aus den Lokalblättern im Westen gesammelt werden konnten.
Allerdings verhinderte sie auch nicht, dass die Militärmissionen der westlichen Alliierten in Potsdam die Lokalzeitungen beziehen konnten, die davon auch Gebrach machten. Denn auch die Amerikaner, Franzosen und Engländer hatten ein Interesse daran, sich ein möglichst genaues Bild von der Lage im Osten Deutschlands zu machen. Über den nur für sie zugelassenen Grenzübergang an der Glienicker Brücke gelangten die Lokalzeitungen dann über viele Jahre zum Informationsbüro West.

Meine Aufgabe als Redakteur beim IWE bestand darin, die Provinzpresse auf wenn schon nichts Sensationelles so doch wenigstens auf Meldenswertes zu durchforsten und journalistisch zu verarbeiten, ein recht mühseliges Unterfangen. Immerhin erschienen rund 50 sogenannte Bezirkszeitungen der SED sowie der Blockparteien NDPD, LDPD und CDU, hinzu kamen noch rund 200 Kreisausgaben der SED-Blätter, alles in allem also eine gehörige Papierflut, die täglich bewältigt werden musste. Angesichts der von der SED verlangten Hofberichterstattung und der meist langweilig und kritiklos geschriebenen Berichte über die sozialistischen Erfolge vor Ort eine ermüdende Lektüre ohne jeden Lustfaktor.

Dennoch fanden sich auf den Lokalseiten auch immer wieder aufschlussreiche Hinweise auf örtliche Vorgänge und Entwicklungen, auf Versorgungsengpässe, Umweltprobleme, Bauvorhaben, Straftaten und ähnliches, die zentral nicht vermeldet wurden, aber auch auf Stimmungen in der Bevölkerung. Auch wenn man manches nur zwischen den Zeilen herauslesen konnte und kritische Leserbriefe entschärft wurden, hatten die Lokalblätter wohl auch eine Ventilfunktion, was ebenfalls erklärt, warum sie auf Geheiß der SED offiziell nicht in den Westen ausgeführt werden durften – trotz knapper Devisen. Bemerkenswert ist noch ein anderer Aspekt: Trotz ideologischer Gleichschaltung – quasi die gesamte zentrale politische Berichterstattung erfolgte auch in den Bezirkszeitungen der sogenannten Blockparteien durch die streng kontrollierte staatliche Nachrichtenagentur ADN – existierten durchaus qualitative Unterschiede zwischen den einzelnen Lokalblättern. Diese hatten zum einen wohl mit dem persönlichen Anspruch der Journalisten und ihrem Mut zu tun, minimale Spielräume zu nutzen, aber auch mit der Rolle der jeweiligen SED-Provinzfürsten und dem vom lokalen Überwachungsapparat ausgehenden Druck auf die Redaktionen. Es ist eine Tatsache: Dort wo die schlimmsten Hardliner unter den SED-Provinzfürsten das Sagen hatten, erschienen die am wenigsten lesbaren Lokalblätter.

Das führte dazu, dass wir die Zeitungen nach einer Rangliste abarbeiteten: Ich sortierte die Zeitungen morgens auf meinem Schreibtisch so, dass die erfahrungsgemäß langweiligsten und unergiebigsten ganz unten lagen: vor allem die SED-Bezirkszeitungen „Neuer Tag“ (Frankfurt/Oder), „Volkswacht“ (Gera) und „Freies Wort“ (Suhl), die ich zuallerletzt lesen wollte. Ganz oben lagen die SED-Blätter „Sächsische Zeitung“ (Dresden) und „Leipziger Volkszeitung“ (Leipzig), die vor allem in den letzten Jahren vor der Wende kritischer als andere zum Beispiel über Umweltprobleme berichteten und zu den vom IWE meist zitierten gehörten.
Und die „Brandenburgischen Neuesten Nachrichten“? Auch sie standen auf der Prioritätenliste im oberen Teil: Das Blatt war zwar wie auch alle übrigen Bezirkszeitungen der Blockparteien mit nur wenigen Seiten Umfang ziemlich mickrig, weil die SED das Papier für die ihr nicht gehörenden Zeitungen streng kontingentierte. Aber dafür fanden sich im lokalen Teil zum Beispiel auch für den westlichen Leser informative Berichte über die Denkmalpflege in Sanssouci und in der barocken Innenstadt, aus denen wir zitierten. Die BNN wie auch andere nicht der SED gehörende Zeitungen pflegten eine Art Nischen-Journalismus: Sie widmeten sich sehr speziellen lokalen und politisch unverfänglichen Themen, was den von SED-Propaganda überfütterten Lesern entgegen kam. Das unterschied die BNN zum Beispiel auch von der ebenfalls in Potsdam erscheinenden SED-Zeitung „Märkische Volksstimme“.

Einmal konnte ich es mir allerdings nicht verkneifen, einen klarstellenden Leserbrief an den Chefredakteur der BNN zu schreiben. Der Grund: Die Zeitung hatte die in der DDR eingeführte kostenlose Schutzimpfung gegen Grippe als sozialistische Errungenschaft dargestellt, denn im kapitalistischen Deutschland müssten die Menschen dafür zahlen. Ich schrieb dem Chefredakteur unter meiner privaten Adresse, dass der Autor schlecht informiert sei und meine Krankenkasse seit Jahren die Kosten für die Schutzimpfung übernehme. Ich bat um Richtigstellung – sie erschien nicht, auch eine Antwort habe ich nicht erhalten. Wahrscheinlich hat die Stasi den Brief abgefangen.
Überhaupt verfolgte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die sich auf die Bezirkspresse stützende Berichterstattung des IWE über lokale Entwicklungen in der DDR über Jahrzehnte mit Argusaugen. Unter meinen über 20-bändigen Stasi-Akten findet sich ein ganzer Ordner, in dem die von westlichen Medien abgedruckten IWE-Nachrichten, aber auch viele meiner im „Tagesspiegel“ veröffentlichten Berichte und Analysen zu DDR-Themen fein säuberlich abgelegt wurden. Und es gibt zahlreiche von der Stasi veranlasste „Überprüfungen zu Presseveröffentlichungen in Berlin-West“, mit denen festgestellt werden sollte, ob die dargestellten Vorgänge tatsächlich aus der jeweils angegebenen Zeitung stammten oder ob es „andere Quellen“ gab.

Typisch ist eine Überprüfungsmeldung einer Bezirksverwaltung für Staatssicherheit an die Hauptabteilung VII des Ministeriums für Staatssicherheit vom 17. August 1981: Die vom „Tagesspiegel“ am 12. Juli 1981 veröffentliche Nachricht über Rechtsverstöße in Verkaufsstellen des Konsums und der HO (Handelsorganisation der DDR, d. Red.) entspreche „sachlich den Tatsachen“ und sei aus der Lokalzeitung übernommen worden. Es gebe keine Hinweise „auf andere Informationsquellen“. Vereinzelt mussten verantwortliche Redakteure im Rahmen der Quellen-Überprüfung auch „Erklärungen“ zu ihren Artikeln abgeben. Öfter verlangte auch das Zentralkomitee (ZK) der SED in Berlin Aufklärung, wie bestimmte Informationen in Westmedien gelangen konnten.

Diese ziemlich aufwändige Überprüfungspraxis spricht übrigens dafür, dass es weder beim Ministerium für Staatssicherheit noch beim ZK der SED eine zentrale Stelle gab, die die Bezirkspresse systematisch durchforstete und archivierte. Umso aufmerksamer verfolgte man die Veröffentlichungen in den West-Medien. Erst über diesen Umweg wurden die eigenen Veröffentlichungen Überprüfungen unterzogen. Letztlich wird daran deutlich, dass die Lokalberichterstattung für SED und Stasi von besonderer Sensibilität war, was auch die Grenzen der Provinz-Redaktionen deutlich macht.
Etwas verwunderlich ist, warum die BNN wie auch die meisten anderen lokalen Blätter der „Blockparteien“ erst relativ spät auf den Überdruck in der DDR im Jahr der friedlichen Revolution mit eigener kritischer und offensiver Berichterstattung reagierten. Zunächst schienen sie, jedenfalls für den westlichen Beobachter, in einer merkwürdigen Abwartehaltung zu verharren, was sich im Herbst 1989 erst allmählich änderte. Hier wirkte sich vermutlich auch die jahrzehntelang antrainierte Vorsicht aus.

Dann fiel die Mauer und alles ging sehr schnell. Der „Tagesspiegel“ schickte mich Anfang 1990 als ersten ständigen Korrespondenten aus dem Westen nach Potsdam, wo ich ein kleines provisorisches Büro hinter der evangelischen Buchhandlung im Holländischen Viertel einrichtete. Telefon gab es nicht, ich schleppte am Tragegürtel ein mächtiges Funktelefon mit mir herum, das aber in Potsdam kaum Empfang hatte. Um meine Berichte an die Redaktion in Berlin durchgeben zu können, musste ich jedes Mal zur Glienicker Brücke fahren.
Die DDR und der alte Apparat existierten noch, ich war plötzlich mittendrin im Umbruch und für manche Kollegen der BNN wie auch der in Potsdam erscheinenden SED-Zeitung, die ich auf den immer seltener werdenden Pressekonferenzen der alten Stadt- und Bezirksverwaltung traf, wohl zunächst auch so etwas wie ein Exot. Ich erlebte nun live mit, wie die mir vom Lesen wohlbekannte BNN die alten Fesseln abstreifte und sich „freischwamm“, zunächst ein durchaus widersprüchlicher Prozess.
Nach den ersten freien Kommunalwahlen im Mai 1990 und der Abwahl des SED-Oberbürgermeisters berichtete ich im „Tagesspiegel“ über die geplante Großinvestition eines kanadischen Unternehmens in der herunter gewirtschafteten Stadt. Die Information hatte ich von einem neugewählten Stadtrat bekommen. Prompt erschien am nächsten Tag in der BNN der Kommentar eines zu ihrem Urgestein zählenden Redakteurs, in dem dieser sich darüber mokierte, dass die Information aus dem Rathaus zuerst „an eine Westzeitung“ gegangen sei.
Nun ja, das Ost-West-Problem löste sich dann sehr schnell, denn bald darauf erwarb der Tagesspiegel die BNN, die nun Potsdamer Neueste Nachrichten hieß, und ich wurde als gemeinsamer Landeskorrespondent selbst ein Teil dieser Zeitung. Und ich konnte erleben, wie die PNN-Redakteure sehr schnell lernten, sich Informationen exklusiv zu beschaffen und auf dem neuen Zeitungsmarkt zu behaupten.


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Zum 50.Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 2011
Mein erster Tag an der Grenze


VON MICHAEL MARA - 09.08.2011- Potsdamer Neueste Nachrichten


Mein erstes Bild von der Grenze war der Stacheldrahtverhau, der Steinstücken seit dem 13. August einschloss. Es war eine stille Nacht, feucht vom Regen. 
An glänzenden Drähten hingen dicke Tropfen. Die Drähte wirkten im Mondlicht unecht wie ein kristallisiertes Ornament. 
Der glatt geharkte Streifen davor, der Spuren von "Grenzverletzern" kenntlich machen sollte, erinnerte an die Aschenbahn eines Stadions. 

Die Wirklichkeit hatte ich gleich bei meiner Ankunft in der 12.Grenzkompanie an der Potsdamer Steinstraße kennen gelernt. Mehrere bei einem  Fluchtversuch gestellte junge Leute mussten sich an einer Barackenwand aufstellen und die Hände in den Nacken nehmen. 
Vier Posten, die russische Kalaschnikow im Anschlag, bewachten sie vor ihrem Abtransport. Ihre Gesichter sahen verängstigt aus. Keiner durfte mit ihnen reden. 
Das Bild wollte mir bei meinem ersten Postendienst nicht aus dem Kopf und ich fragte mich, wie ich reagieren würde, wenn wir auf Flüchtlinge stießen. 
Der Befehl des Kompaniechefs lautete „Grenzverletzungen durch Agenten, Spione, Terroristen unter allen Umständen verhindern: Anruf, Warnschuss, Zielschuss!“

Der Postenführer, ein schweigsamer und schwer zu durchschauender Endzwanziger, unterbrach meine Gedanken: "Dort", sagte er und deutete auf ein Gasthaus in Steinstücken, "haben wir uns bisher Westzigaretten besorgt. Das ist jetzt aus.“ 
Bis zum 13.August waren die Grenzer von dem Steinstückener Gastwirt gut versorgt worden. Er gab öfter mal Bier und Essen aus, steckte den jungen Soldaten Schokolade oder Bananen zu. 
Das geschah heimlich, aber es war doch eine gewisse nachbarschaftliche Normalität, obwohl Steinstücken seit 1949 eine „kapitalistische Enklave“ war: ein kleines Stück West-Berlin auf DDR-Gebiet, unmittelbar an Potsdam angrenzend und mit dem Ortsteil Kohlhasenbrück in Wannsee durch eine Straße verbunden.  

Jetzt war die bisherige Verbindungsstraße aufgerissen und mit Stacheldraht gesperrt. 
Die Steinstückener mussten einen anderthalb Kilometer langen und gut bewachten  Waldweg benutzen, wenn sie zur Arbeit nach West-Berlin wollten. 
Sie wurden zweimal kontrolliert: Beim Verlassen ihrer kleinen Insel und dann noch einmal an der Grenze zu West-Berlin.
Der dort eingerichtete „Kontrollpunkt Kohlhasenbrück“ bestand aus einem Schlagbaum und einem kleinen gemauerten Wachhäuschen. Besucher, selbst Verwandte, wurden nach dem 13.August nicht mehr nach Steinstücken durchgelassen, nur die Feuerwehr durfte im Notfall noch passieren.

Die Stimmung bei den über Nacht völlig isolierten rund 200 Bewohnern Steinstückens war seit dem 13. August mies. Weniger zu ihrem Schutz, sondern als demonstrative Geste hatte die US-Army vier Soldaten in der West-Berliner Exklave stationiert, die mit dem Hubschrauber eingeflogen wurden und der Kompanieführung ein Dorn im Auge waren. Jede Kontaktaufnahme mit den „imperialistischen Söldnern“ war uns strengstens untersagt. 
Es handele sich um „gefährliche, im Nahkampf ausgebildete US-Ranger“ die vor nichts zurück schrecken würden. Wir müssten mit Provokationen rechnen, ja sogar Entführungsversuchen, hatte der der Kompaniechef uns Neuankömmlinge gewarnt.  
„Die tauchen jeden Abend hier auf“, sagte mein Postenführer. Und tatsächlich ließen sie nicht lange auf sich warten. Die drei US-Soldaten unterhielten sich laut, grüßten lässig und ich nickte zurück - ein Reflex. Der Postenführer sah das, stieß mir seine MPi in die Hüfte und zischte: "Wenn das noch mal vorkommt, mache ich Meldung." Bis dahin hatte ich mich ganz gut mit ihm verstanden, nun wollte ich vorsichtiger sein.

Die US-Soldaten gingen am Stacheldraht-Zaun vorbei, der links und rechts bis an den Weg heranreichte, und kamen geradewegs auf uns zu. Wir waren angewiesen worden, sie in einem solchen Fall am Betreten des Grenzgebietes der DDR zu hindern. Der Postenführer rief irritiert „Stopp“, riss nervös seine Maschinenpistole von der Schulter und entsicherte sie. 
Auf sein Geheiß tat ich das gleiche. Die Amis, jetzt nur noch drei oder vier Meter von uns entfernt, grinsten. Einer streckte uns die Hand mit einer Packung Zigaretten entgegen. 
Der Postenführer richtete seine Waffe auf den dunkelhäutigen Soldaten. 
Nach vielleicht 30 Sekunden, die mir wie Minuten erschienen, machten sie kehrt und gingen langsam und laut lachend nach Steinstücken, auf West-Berliner Gebiet, zurück. 

Eigentlich wäre es ganz einfach ihnen jetzt zu folgen, schoss es mir durch den Kopf. 
Die Amis würden Flüchtlinge mit ihrem Hubschrauber nach West-Berlin ausfliegen, hatte mir ein Soldat erzählt. 
Aber das Risiko schien mir zu groß. Selbst wenn der Postenführer nicht auf mich schießen würde oder es mir gelänge, ihn vorher außer Gefecht zu setzen, könnte der Kompaniechef mit 20 oder 30 schwer bewaffneten Soldaten nach Steinstücken einmarschieren und mich mit Gewalt herausholen. Das hatte er „Verrätern“ jedenfalls angedroht - und ich hielt in diesen unruhigen Tagen alles für möglich. 
Die Kompanieführung war nervös, wenige Tage zuvor waren wieder zwei Grenzsoldaten geflüchtet. 
Wegen der gehäuften Desertationen hatte der Brigade-Stab eine gründliche Untersuchung angeordnet.
Es hieß, dass ein großer Teil der Soldaten und Offiziere ausgewechselt werden solle. 
Ich war überrascht, wie labil die Situation in der Kompanie Drewitz-West war.     

Dass ich die erste Gelegenheit zur Flucht nutzen würde, stand für mich seit meiner Rekrutierung fest. 
Um die Grenzsperren zu bewachen, wurden unmittelbar nach dem 13. August Hals über Kopf  tausende junge Männer im Schnellverfahren eingezogen. Fast ausnahmslos FDJ-Mitglieder, von denen man sich politische Zuverlässigkeit versprach. Ich war an jenem Schicksals-Sonntag erst ein paar Monate Jungredakteur beim Ost-Berliner Verlag „Junge Welt“, der im Auftrag der FDJ zahlreiche Kinder- und Jugendzeitschriften heraus gab. 
Man hatte mich zum so genannten 4. Pioniertreffen, einem Aufmarsch der Kinderorganisation, nach Erfurt entsandt. Als ich morgens im Pressebüro erschien, begrüßten mich einige Jugendfunktionäre, als ob eine revolutionäre Schlacht gewonnen worden wäre: 
„Endlich.Wir hätten die Grenze schon längst dicht machen sollen“ und „Wir zeigen es denen, jetzt ist es vorbei mit der Ausplünderung der DDR“.

Ich bekam den Auftrag, zustimmende Erklärungen von Erfurtern zu besorgen, die am nächsten Tag veröffentlicht werden sollten. Am Hauptbahnhof stieß ich auf eine größere  Menschenansammlung.Viele machten ihrem Ärger Luft, weil keine Fahrkarten nach Ost-Berlin verkauft wurden. Polizisten versuchten, die Menschen zum Verlassen des Gebäudes zu bewegen. Eine Frau weinte: Sie wollte ihre Tochter in West-Berlin besuchen. 
Andere fürchteten, dass es jetzt zum Krieg kommen werde: „Das wird der Westen nicht hinnehmen.“ Die Menschen waren aufgewühlt, ich traf nur zwei Parteigenossen, die die Abriegelung der Grenze begrüßten.

Weil der Leiter des Pressebüros mit meiner dürftigen Ausbeute nicht zufrieden war, formulierte er eiligst selbst die Abriegelung gutheißende Erklärungen und setzte erfundene Namen und Berufe darunter. Sie wurden veröffentlicht. Abends sagte mir ein Funktionär des Verlages „Junge Welt“: „Wir sind informiert worden, dass 20 000 Soldaten zur Sicherung des antifaschistischen Schutzwalls benötigt werden. Ich habe Dich auf die Liste gesetzt. 
Halte Dich auf Abruf bereit.“ Als ich die Bereitschaftserklärung unterzeichnete, wusste ich, dass die Unterschrift bestimmend für mein weiteres Leben und vielleicht auch für das Schicksal anderer sein würde.

Schon ein paar Tage nach meinem ersten Dienst stand ich morgens wieder an der Straße  vor Steinstücken. Der Postenführer wies mich an, von den zur Arbeit nach West-Berlin fahrenden  Steinstückenern  Namen und Wohnung festzustellen. „Keine Diskussionen, keine Gespräche!“ Das erste Auto war ein kleiner blauer Wagen. Der Fahrer hielt kurz seinen Ausweis an die Scheibe und wollte weiterfahren. "Drehen Sie bitte die Scheibe herunter und geben Sie mir Ihren Ausweis zur Kontrolle", sagte ich.Nur ein kleines Stück senkte sich das Glas, aber der Ausweis erschien nicht.  

„Das wird ja hier immer schlimmer. Ich werde mich bei unseren Alliierten beschweren. 
Ich brauche meinen Ausweis nicht aus der Hand zu geben.“ Plötzlich legte der Fahrer den Gang ein. Der Postenführer sprang vors Auto und richtete seine entsicherte Maschinenpistole auf das Fahrzeug. "Machen Sie keine Faxen, Mann!" Nun drückte mir der Fahrer seinen Ausweis in die Hand. „Prof. Dr. Johannes Niemeyer“ las ich. Unsere Blicke trafen sich, ich sah ein feines Gesicht. Schnell überflog ich den Ausweis und gab ihn zurück. Was mag der Mann denken? Ich beschloss, mich später bei ihm zu entschuldigen. Aber wann würde das sein?

Viel Zeit hatte ich nicht mehr, der Ausbau der Grenzanlagen schritt schnell voran. 
Ich hatte zunächst angenommen, dass man es bei einem zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun belassen würde. Inzwischen wurden aber ein zweiter und dritter Stacheldrahtzaun mit Betonpfählen errichtet. Zwischen dem ersten und dem zweiten Zaun lagen überkreuzte Holzbalken, die mit Stacheldraht bespannt waren, sogenannte „Spanische Reiter“, so dass selbst ein gewaltsam durchbrechender Lastwagen darin hängen bleiben musste. 
Ich hatte Sorge, dass ich den besten Zeitpunkt für eine sichere Flucht verpassen würde. Niemand sollte zu Schaden kommen.

Heiligabend 1961, mehr als vier Monate nach der Abriegelung der Grenze, war die Stimmung in der Kompanie auf dem absoluten Tiefpunkt. Urlaubssperre, schlechte Verpflegung, eisige Kälte und Mangel an warmen Mänteln und Jacken. Viele Soldaten hatten Heimweh. 
Die Lethargie war groß und so sprach ich morgens mit einem Kameraden beim Kompanieführer vor: Er stimmte unserem Vorschlag sofort zu, zur Verbesserung der Stimmung spontan eine Weihnachtsfeier zu organisieren. Wir fällten im Wald eine Kiefer, kauften im Konsum in Babelsberg den restlichen noch vorhandenen  Weihnachtsschmuck auf. Abends packten wir die Päckchen aus, die wir von zu Hause erhalten hatten, und legten das von unseren Familien gebackene Gebäck und andere Leckereien auf den Tisch. 
Jeder konnte sich bedienen. Dazu lief Weihnachtsmusik.   

Die eigentliche „Bescherung“ fand für mich gegen 21 Uhr statt: Weil Weihnachten war, zog die  Kompanieführung die „Vergatterung“ für den Dienst am nächsten Morgen um Stunden vor, nicht ahnend, was sie mir damit für ein Geschenk bereitete: Ich sollte zum ersten Mal am Kontrollpunkt Kohlhasenbrück stehen, direkt an der Grenze zu West-Berlin. Am Schlagbaum an dem alle Bewohner Steinstückens bei der Ein- und Ausfahrt kontrolliert und Unberechtigte abgewiesen wurden. Eine bessere Gelegenheit zur Flucht würde es nicht geben. 
Ich war aufgeregt und packte Ausweise und andere wichtige Dokumente, die ich mitnehmen wollte,  in meine Uniformjacke, was eigentlich verboten war. An Schlaf konnte ich in dieser Weihnachtsnacht nicht zu denken. 
Mir war warm als ich am Weihnachtsmorgen um fünf Uhr vom Lastwagen sprang und mit dem Postenführer zum winzigen Kontrollhäuschen schritt. Es hatte ein wenig geschneit und war eisig kalt. Aus dem Wald drang kein Laut, er wirkte märchenhaft, wenn da nicht der von grellen Laternen beleuchtete Schlagbaum und die Stacheldrahtzäune links und rechts des Weges gewesen wären. Der Postenführer teilte mich für die erste Stunde zur Kontrolle am Schlagbaum ein, er  übernahm die darauffolgende. Um sieben Uhr ging ich wieder nach draußen, der Postenführer zog sich ins warme Häuschen zurück..

Wenig später kamen, von mir erwartet, die links vom Kontrollpunkt Streife laufenden Soldaten zum Schlagbaum. Mit dem Postenführer, einem Kameraden, hatte ich mich Heiligabend abgesprochen: Wir wollten gemeinsam flüchten. Wie besprochen schickte er seinen Posten zum Aufwärmen in das Kontrollhäuschen, was eigentlich streng verboten war. 
Wir standen allein am Schlagbaum, unterhielten uns laut: Um nicht den Argwohn der  beiden Soldaten zu erregen zeigten wir uns wiederholt am Fenster.  

Wir hätten die Straße  nach West-Berlin einfach hinunter laufen können. Aber das Risiko wäre groß gewesen, in das Schussfeld der beiden Soldaten oder einer hin und her pendelnden Kontrollstreife zu geraten. Der Schlagbaum befand ich etwa 80 Meter von der Grenzlinie entfernt. Die Straße war grell beleuchtet und von allen Seiten gut einsehbar.
Deshalb hatten wir uns schon Heiligabend entschlossen, abseits vom Kontrollpunkt im Dunklen über den Stachelverhau zu klettern.

So schlenderte erst mein Kamerad von der Straße weg am Stacheldrahtzaun entlang, als ob er etwas kontrollieren wollte. Ich zeigte mich ein letztes mal vor dem Fenster des Kontrollhäuschens: die beiden Soldaten unterhielten sich  Langsam folgte ich meinem Kameraden. Alles blieb ruhig. Als wir meinten uns weit genug vom Häuschen entfernt zu haben kletterten wir über die Zäune. Warum ich meinen sowjetischen Karabiner „S“ mit 60 Schuss Munition mitschleppte, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. 
Selbst wenn Soldaten auf uns geschossen hätten, hätte ich nicht zurück geschossen. 

Wir hatten West-Berlin noch nicht erreicht, als ich auch aus dem Augenwinkeln wahrnahm, wie sich eine Unteroffiziers-Streife dem Kontrollpunkt  näherte. Zu spät! 
Wir rannten unter einer Brücke hindurch, rissen die Tür zu einem kleinen Wachhäuschen der Berliner Polizei auf und stürmten hinein. Die beiden Polizisten, die Weihnachtsmusik hörten und Kaffee tranken, erschraken heftig und sprangen auf.  Später gestand einer lachend, er habe angesichts meines Karabiners für eine Sekunde geglaubt „die Russen kommen“. Obwohl ich mich freute, wie glatt alles gegangen war, zitterten mir die Knie. "Das ist immer so, wenn man es geschafft hat", beruhigte ein Polizist.

Einige Monate nach meiner Flucht rief ich Niemeyer in Steinstücken an. Ich war gespannt, wie er reagieren würde. Er hatte die Episode am Kontrollpunkt nicht vergessen und war tief gerührt. Bei einem Essen im China-Restaurant feierten wir bald darauf meine Flucht. 


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»Unser Land braucht Menschen, die nicht nur an sich denken. Wir brauchen Moral und Gemeinsinn. Wenn wir uns auf solche brandenburgisch-preußischen Tugenden besinnen, bekommt die gewonnene Freiheit ihren Wert.«Manfred Stolpe
» Die Festung Stolpe ist uneinnehmbar «
Manfred Stolpe hat sein Land geprägt wie es nur wenige können Das Eingeständnis fällt nicht leicht : Wenngleich ich den ersten Ministerpräsidenten Brandenburgs zwölf Jahre vom ersten bis zum letzten Arbeitstag journalistisch begleitet habe, konnte ich Manfred Stolpe nicht wirklich ergründen, obwohl ich ihn wohl so oft wie kaum ein anderer interviewt, bei Krisen erlebt, im Landtag beobachtet und auf Reisen durch Brandenburg begleitet habe. Auch wenn ich die Zeilen nicht zählen kann, die ich über ihn geschrieben habe, blieben es letztlich Versuche einer Annäherung an diesen Politiker und Menschen, der kaum Einblicke in seine innere Gedanken- und Gefühlswelt gewährte. Aber ich bin über diese Erfahrungen froh, gibt es unter Politikern doch nur wenige ein Land so stark prägende, ungewöhnliche Persönlichkeiten.
Eine bezeichnende Episode fällt in die Zeit, als ein Untersuchungsausschuss des Landtages die Stasi-Verwicklungen des früheren Kirchendiplomaten und Ost-West-Grenzgängers untersuchte. Die Wellen schlugen damals hoch, Manfred Stolpe war zwei Jahre lang heftigsten Attacken ausgesetzt, für viele stand fest, dass er politisch nicht überleben wird. Auch ich hatte damals meine Zweifel und frage mich bis heute, woher er die innere Kraft nahm, diesen Dauerbeschuss physisch und psychisch zu überstehen. Damals wurde im Landtag eine Fotoausstellung über Brandenburger Sehenswürdigkeiten gezeigt, und wir waren mit ihm zu einem kurzen Interview verabredet. Während wir auf ihn warteten sah, sich mein junger Kollege im Landtag die Bilder der Ausstellung an, als plötzlich der Regierungschef hinzutrat und ihm lächelnd leise erklärte: » Das ist die Festung Stolpe. Die Mauern sind mehr als vier Meter dick. Sie ist uneinnehmbar. Sie können sich das merken« Die Anspielung trifft wohl zu, etwas von diesem Bergfried bei Angermünde in der Uckermark hat auch Manfred Stolpe.
Ich habe ihn jedenfalls immer standhaft, unbeirrbar und seine Fassung nie verlierend erlebt, ein Fels in der Brandung der hektischen und labilen Aufbaujahre. Er hat nie gezeigt, was die Stasi-Vorwürfe in ihm auslösten. Aber seine Frau Ingrid, die anders als ihr Mann aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht, hat mir später in einem sehr persönlichen Interview erzählt, dass ihr Mann trotz der demonstrativen äußeren Gelassenheit gelitten hat. Und sie fügte gleich hinzu: » Aber das würde er nie zugeben! « Nicht gegenüber seiner Frau, schon gar nicht gegenüber Journalisten. Erst später erfuhr ich, dass Stolpe das Interview seiner Frau vor dem Druck gelesen, aber nichts verändert hatte. Ich habe ihn dann gefragt, warum er es überhaupt vorab lesen wollte ? »Ich kenne meine Frau und wollte sichergehen, dass sie nicht zu sehr über meine Partei herzieht«, lautete seine spitzbübische Erklärung. Aber der Satz über Kanzler Schröder blieb drin: » Er ist schön und medienwirksam, aber das war‘s dann auch. «
Das Verhältnis Manfred Stolpes zu Journalisten und Medien war in seiner Brandenburger Amtszeit ambivalent. Bei Reisen durchs Land habe ich den Regierungschef meist fröhlich-entspannt und humorvoll erlebt. Es bereitete ihm diebische Freude, bei eingeschobenen Radtouren einen Spurt einzulegen und den Journalisten davonzufahren. Die gemeinsamen Essen waren immer unterhaltsam. Einmal debattierte ich mit ihm darüber, ob Reis die richtige Beilage für den heimischen Havelzander sei, was auch er merkwürdig fand, ein anderes Mal über Knoblauch, den er gar nicht mag. Andererseits hat er Journalisten manchmal auch einfach stehen lassen und an ihnen vorbeigesehen, wenn diese ihn im Landtag auflauerten und mit Fragen bombardierten, die er nicht beantworten wollte. Und er hat so auch zu erkennen gegeben, wenn ihm an einem kritischen Bericht etwas missfiel. Anlässe gab dafür gab es oft. Umso mehr nötigte es mir Respekt ab, dass er nie so dünnhäutig und empfindlich wie andere Politiker reagierte, die sich telefonisch oder sogar bei der Chefredaktion über harsche Kritik beschwerten.
Interviews mit ihm habe ich immer gern geführt, obwohl sie jedes Mal eine besondere Herausforderung darstellten – jedenfalls für den in der Redaktion, der sie abschreiben musste. Denn er fasste sich ungern kurz und formulierte in verschachtelten Sätzen, was man, weil alle Worte wohl gesetzt klangen, leider immer erst beim Abschreiben bemerkte. Manchmal stellte sich erst dann heraus, dass er die eigentliche Frage geschickt umgangen hatte. Fast immer war Nachtarbeit angesagt, um die Interviews von meist etwa 1000 Zeilen auf 200 bis 300 zeitungsgerecht zu kürzen. Aber die Interviews hatten Substanz, Manfred Stolpe hatte immer etwas zu sagen.
Unbedachtes war ihm nie zu entlocken, aber einmal gelang es mir doch, ihn in einem Interview zu einem Bekenntnis zu veranlassen, das eine heftige politische Debatte auslöste und ihm lange Zeit vorgehalten wurde, nämlich seine Aussage, dass Brandenburg das Etikett der kleinen DDR stolz trage. Dieser Satz blieb hängen, wirkt bis heute nach, auch wenn Stolpe im gleichen Interview der DDR-Nostalgie eine klare Absage erteilte. Aber es ist wohl so, dass er die Wirkung dieses Satzes damals vermutlich unterschätzte. Bei den Wählern hat er ihm nicht geschadet.
Dass er nicht zu durchschauen war und sich nicht in die Karten blicken ließ, hat Brandenburgs erster Ministerpräsident auch mit seinem spektakulären Abtritt im Sommer 2002 unterstrichen. Schon seit etwa 2000 hatten wir ihn immer wieder mit der Frage genervt, wann er seinen Stuhl für Matthias Platzeck räumen werde. Er wich aus, sagte mir einmal allerdings: » Glauben Sie wirklich, dass ich an meinem Stuhl klebe und man mich hier raustragen muss? « So sicher war ich mir nicht. Und etwas wurmt es mich bis heute, dass es ihm gelang, den Zeitpunkt geheim zu halten und alle an der Nase herumzuführen.
Ich habe meine mit Manfred Stolpe geführten Interviews noch einmal nachgelesen. Es ist auch im Nachhinein faszinierend, wie er sich seit 1990 bemühte drei, vier Schritte im Voraus zu denken, lange Linien zu entwickeln. Wie er sich durchaus irrte, wie bei der gescheiterten Länderfusion, aber eben auch recht behielt, wenn man nur an die aktuellen Proteste gegen den Großflughafen Berlin-Schönefeld denkt, vor dem er 1995 warnte: » Da im Umfeld von Schönefeld 70000 bis 100000 Einwohner leben, wäre ein Großflughafen dort unmenschlich. « Er wurde von Berlin und dem Bund zur Kapitulation gezwungen.
An Manfred Stolpe mögen sich die Geister scheiden. Ob in seinen Verdiensten für Brandenburg, das 1990 am Boden lag, das er zusammenhielt und aufwärts führte, oder in seinen Fehlentscheidungen. Ich habe jedenfalls keinen Politiker kennen gelernt, der es damals hätte besser machen können.
Michael Mara war von 1990 bis 2008 Brandenburg-Korrespondent des Tagesspiegel.





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